Aktuelles Urteil: Diabetiker haben Anspruch auf Messgerät zur Alarmierung bei Unterzuckerung
Systeme zur kontinuierlichen Glukosemessung (rtCGM) bei Diabetikern müssen seit 2016 von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden, wenn sich die Therapieziele nicht auf andere Weise erreichen lassen. Häufig werden solche Geräte allerdings aus ganz anderem Grund benötigt: sie warnen den Patienten nämlich vor herannahenden Unterzuckerungen, so daß er rechtzeitig reagieren und somit eine potentiell lebensbedrohliche Situation vermeiden kann. Ausgerechnet in solchen Fällen lehnen Krankenkassen aber oft die Kostenübernahme ab, weil die blosse Alarmierung nicht zu einer Therapieverbesserung führe.
Nach jahrelangem Verfahren konnte ich nun ein Urteil erstreiten, das klarstellt: auch in solchen Fällen muss die Krankenkasse zahlen, denn die Alarmfunktion dient dem Ausgleich einer Behinderung und sichert den Erfolg der Krankenbehandlung.
Blutzuckermessgeräte sowie die benötigten Teststreifen sind bei insulinpflichtigen Diabetes-Patienten in medizinisch notwendigem Umfang und ohne Mengenobergrenze zu Lasten der gesetzlichen Krankenkassen verordnungsfähig. Auch Systeme, die kontinuierlich den Zucker messen (CGM), dürfen seit 2016 unter bestimmten Bedingungen von der Krankenkasse übernommen werden.
Die Voraussetzungen sind allerdings recht eng und lassen durchaus Interpretationsspielraum. Dies führt dazu, dass es ausgerechnet in den Fällen oft Schwierigkeiten gibt, bei denen ein CGM besonders dringend notwendig ist, nämlich wenn der Patient keine Unterzuckerungen mehr wahrnimmt und eine entsprechende Alarmierungsfunktion benötigt. Leider stellen sich die Kassen hier oft auf den Standpunkt, dass ein solcher Einsatzzweck nicht von den Vorgaben des G‑BA umfasst sei, denn hierdurch würde ja kein Therapieziel erreicht.
Nach einem jahrelangem Rechtsstreit konnte ich nun eine gerichtliche Entscheidung erkämpfen, die richtungsweisend sein könnte und Hoffnung für viele Patienten bringen dürfte:
Das Sozialgericht Nürnberg hat in einem aktuellen Urteil unmissverständlich klargestellt, dass ein CGM auch und gerade wegen der Alarmfunktion erforderlich sein kann. Denn es diene dazu, eine Verschlimmerung der Krankheit zu verhindern, eine Behinderung auszugleichen und den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern — und genau dies sei aber ja Leistungspflicht der Krankenkasse.
Geklagt hat ein Typ1-Patient, der über eine unzureichende Unterzuckerungswahrnehmung verfügt und bereits an Folgeerkankungen (Retinopathie) leidet. In der Vergangenheit kam es daher schon zu mehreren schweren Unterzuckerungen und Notarzteinsätzen, was selbst durch häufige Blutzuckerselbstkontrollen nicht verhindert werden konnte; auch Schulungen und Unterzuckerungswahrnehmungstraining brachten keinen Erfolg. Die beklagte Krankenkasse vertrat dennoch die Auffassung, dass man zuerst noch weitere Schulungen oder Hypowahrnehmungstraining versuchen solle, meist könnten solche Unterzuckerungen auch durch eine Therapieumstellung verhindert werden.
Damit nicht genug: die Krankenkasse verlangte allen Ernstes, daß der Patient stattdessen auch einfach höhere Blutzuckerwerte (und damit auch mögliche Folgeschäden..) in Kauf nehmen solle, denn dann käme es schliesslich ja nicht mehr zu Unterzuckerungen.
Das Sozialgericht hat hierauf eine klare Antwort gefunden:
Dieser Vorschlag widerspreche „in eklatanter Weise der Verpflichtung der Beklagten gemäß §§ 11 Abs. 1 Nr. 2, 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V, eine Krankheit bzw. deren Verschlimmerung zu verhüten. [..] Sowohl aus sozialmedizinischer als auch aus allgemeinärztlicher Sicht ist es nicht nachvollziehbar, erhöhte Blutzuckerwerte in Kauf zu nehmen mit der Konsequenz der früher einsetzenden Blindheit des Klägers, bei jetzt schon diabetisch vorgeschädigten Augen.“ Das beantragte CGM sei allein deswegen schon erforderlich, um die Voraussetzungen des § 33 Abs. 1 Satz 1 1. Alt. SGB V zu erfüllen, nämlich „…um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern”.
Darüber hinaus sei die Versorgung mit einem solchen Gerät medizinisch erforderlich, um einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen: denn die Hypoglykämiewahrnehmungsstörung des Klägers sei eine Behinderung. Bei Epilepsie oder Inkontinenz sind bloße Alarmsysteme als Hilfsmittel zugelassen, der mit einer schweren Unterzuckerung einhergehende Bewusstseinsverlust sei mit der Behinderung durch Epilepsie vergleichbar. Auch hier kommt es zu Bewusstseinsverlusten, die zu Hause, am Arbeitsplatz oder auf der Straße auftreten können und entsprechende soziale Folgen nach sich ziehen.
Die mit dem CGMS verbundene Alarmfunktion warnt den Kläger akustisch vor bestehenden Unterzuckerungs- und Überzuckerungssituationen und beugt somit einer drohenden Behinderung, nämlich dem durch eine schwere Unterzuckerung eintretenden Bewusstseinsverlust und den damit verbundenen direkten und unmittelbaren Folgen, die für den Kläger lebensbedrohlich sein können, vor. Darüber hinaus gleicht es die Behinderung „Hypoglykämiewahrnehmungsstörung” aus. Das System sei auch deswegen medizinisch erforderlich, weil es keine geeignete und gleichermaßen wirksame Alternative gibt: Selbst durch eine noch so hohe Messfrequenz mit konventioneller Blutzuckermessung könne beispielsweise eine Absicherung während der Nacht nicht erfolgen. Auch beeinträchtigen die genannten Behinderungen die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft.
Auch wenn es sich nur um die Entscheidung eines erstinstanzlichen Sozialgerichts handelt, könnte das Urteil doch richtungsweisend sein. Denn das Gericht hat sich sehr ausführlich mit der Problematik auseinandergesetzt und auch sorgfältig begründet, daß die Leistungspflicht der Krankenkassen über die reine Therapie hinausgeht. Wenn mit Krankheiten erhebliche Gefahrenzustände bzw. Behinderungen einhergehen, dann ist es ebenfalls Aufgabe der Krankenkasse, die zur Gefahrabwendung bzw. Risikominimierung hierfür erforderlichen Leistungen zu erbringen.
Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, es bleibt daher abzuwarten, ob die Krankenkasse in Berufung geht und dann das Landessozialgericht erneut entscheiden muss.
In jedem Fall dürfte die deutliche Urteilsbegründung aber nun auch anderen Patienten helfen, die sich momentan bei der Kostenübernahme eines CGM noch schwertun.
Der Volltext der Entscheidung kann in der Rubrik Urteile und Entscheidungen abgerufen werden.
In der nächsten Ausgabe des Diabetes-Journal werde ich umfassend über das Urteil berichten.
Übrigens: Meinen kostenlosen “Leitfaden für Patienten und Schulungspersonal zur Beantragung von CGM” gibt es im diabetes-forum.de