Bun­des­so­zi­al­ge­richt Urteil vom 12.12.2024, B 9 SB 2/24 R

Tenor

Die Revi­si­on der Klä­ge­rin gegen das Urteil des Lan­des­so­zi­al­ge­richts Nie­der­sach­sen-Bremen vom 14. Febru­ar 2024 wird zurück­ge­wie­sen.

Die Betei­lig­ten haben ein­an­der außer­ge­richt­li­che Kosten auch für das Revi­si­ons­ver­fah­ren nicht zu erstat­ten.

G r ü n d e :

I

1
Zwi­schen den Betei­lig­ten ist strei­tig, ob bei der Klä­ge­rin wegen ihres Dia­be­tes mel­li­tus ein Grad der Behin­de­rung (GdB) von 50 fest­zu­stel­len ist.

2
Die 2010 gebo­re­ne Klä­ge­rin bean­trag­te am 23.4.2020 wegen eines insu­lin­pflich­ti­gen Dia­be­tes mel­li­tus Typ I die Fest­stel­lung einer Behin­de­rung sowie der Merk­zei­chen H (Hilf­lo­sig­keit) und B (Not­wen­dig­keit stän­di­ger Beglei­tung). Dar­auf­hin stell­te der Beklag­te bei ihr wegen dieses Lei­dens einen GdB von 40 und das Merk­zei­chen H ab Antrag­stel­lung fest (Bescheid vom 9.6.2020, Wider­spruchs­be­scheid vom 10.9.2020).

3
Das SG hat den Beklag­ten ver­ur­teilt, den GdB der Klä­ge­rin ab Antrag­stel­lung mit 50 fest­zu­stel­len. Bei der Klä­ge­rin bestün­den über den The­ra­pie­auf­wand hinaus erheb­li­che Ein­schnit­te, die ihre Lebens­füh­rung gra­vie­rend beein­träch­tig­ten. Sie müsse zur sach­ge­rech­ten Durch­füh­rung der The­ra­pie und zur Abwen­dung von Gefah­ren deut­lich mehr beglei­tet, beob­ach­tet und betreut werden, als es ihrem Alter ent­spre­che. Die Klä­ge­rin könne sich wesent­li­che Lebens­be­rei­che nur mit eng­ma­schi­ger Hilfe erschlie­ßen, was eine aus­ge­präg­te Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung dar­stel­le (Urteil vom 27.4.2023).

4
Auf die Beru­fung des Beklag­ten hat das LSG das Urteil des SG auf­ge­ho­ben und die Klage abge­wie­sen. Die Klä­ge­rin sei nicht durch erheb­li­che Ein­schnit­te gra­vie­rend in ihrer Lebens­füh­rung beein­träch­tigt. Schwe­re hypo­glyk­ämische Ent­glei­sun­gen mit erfor­der­li­cher Fremd­hil­fe hätten sich ebenso wenig erge­ben wie Fol­ge­schä­den an ande­ren Orga­nen und nen­nens­wer­te Zeiten von Arbeits­un­fä­hig­keit oder sta­tio­nä­rer Behand­lungs­be­dürf­tig­keit. Auch eine stär­ker erfor­der­li­che elter­li­che Über­wa­chung und Beglei­tung auf­grund einer Behin­de­rung beein­träch­ti­ge die Lebens­füh­rung von Kin­dern nicht gra­vie­rend, sofern dies keine schwer­wie­gen­den wei­te­ren psy­chi­schen Kon­se­quen­zen für den betrof­fe­nen jungen Men­schen habe. Eine zusätz­li­che gra­vie­ren­de Beein­träch­ti­gung der Lebens­füh­rung liege viel­mehr erst dann vor, wenn anders als bei der Klä­ge­rin indi­vi­du­el­le sozia­le Pro­ble­me erkenn­bar würden, etwa gra­vie­ren­de Ver­hal­tens­auf­fäl­lig­kei­ten oder eine deut­lich ver­rin­ger­te sozia­le Akzep­tanz. Beim elter­li­chen Hil­fe­be­darf han­de­le es sich letzt­lich um ein Ele­ment des durch das Lebens­al­ter modi­fi­zier­ten all­ge­mei­nen The­ra­pie­auf­wands (Urteil vom 14.2.2024).

5
Mit ihrer vom LSG zuge­las­se­nen Revi­si­on rügt die Klä­ge­rin die Ver­let­zung der Bestim­mun­gen über die Bewer­tung des GdB bei Dia­be­tes mel­li­tus in Teil B Nr 15.1 der Anlage zu §  2  Ver­sor­gungs­me­di­zin-Ver­ord­nung (Vers­MedV) — Anlage Ver­sor­gungs­me­di­zi­ni­sche Grund­sät­ze (VMG). Das Beru­fungs­ge­richt habe die indi­vi­du­el­len Umstän­de ihres gestei­ger­ten Fremd­hil­fe­be­darfs sowie ihrer psy­chi­schen und sozia­len Ent­wick­lung unzu­tref­fend fest­ge­stellt. Zudem habe es bei der Prü­fung, ob sie durch erheb­li­che Ein­schnit­te gra­vie­rend in ihrer Lebens­füh­rung beein­träch­tigt sei, einen unzu­tref­fen­den Ver­gleichs­maß­stab zugrun­de gelegt. Dar­über hinaus habe das LSG zu Unrecht nega­ti­ve Aus­wir­kun­gen im Rahmen beson­de­rer, aber für das Lebens­al­ter typi­scher Fähig­kei­ten außer Acht gelas­sen, bei ihr etwa bezo­gen auf das Betrei­ben des Viel­sei­tig­keits­rei­tens als Leis­tungs­sport. Es sei auch recht­lich feh­ler­haft, bei einer stär­ker erfor­der­li­chen elter­li­chen Über­wa­chung und Beglei­tung auf­grund der Behin­de­rung eine gra­vie­ren­de Beein­träch­ti­gung der Lebens­füh­rung pau­schal aus­zu­schlie­ßen.

6
Die Klä­ge­rin bean­tragt,
das Urteil des LSG Nie­der­sach­sen-Bremen vom 14.2.2024 auf­zu­he­ben und die Beru­fung des Beklag­ten gegen das Urteil des SG Osna­brück vom 27.4.2023 zurück­zu­wei­sen.

7
Der Beklag­te bean­tragt,
die Revi­si­on zurück­zu­wei­sen.

8
Er beruft sich auf das ange­foch­te­ne Urteil, das er für zutref­fend hält.

II

9
Die zuläs­si­ge Revi­si­on der Klä­ge­rin ist unbe­grün­det (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Die Klä­ge­rin hat keinen Anspruch auf Fest­stel­lung eines GdB von 50 wegen ihres Dia­be­tes mel­li­tus.

10
A. Gegen­stand des Revi­si­ons­ver­fah­rens ist das Urteil des LSG, mit dem es einen Anspruch der Klä­ge­rin auf Fest­stel­lung eines höhe­ren GdB als 40 ver­neint, das ent­ge­gen­ste­hen­de Urteil des SG auf­ge­ho­ben und die Klage der Klä­ge­rin abge­wie­sen hat.

11
B. Da die Klä­ge­rin eine statt­haf­te Anfech­tungs- und Ver­pflich­tungs­kla­ge (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG) auf Fest­stel­lung eines höhe­ren GdB erho­ben hat, ist der Rechts­streit nach der Sach- und Rechts­la­ge zum Zeit­punkt der letz­ten münd­li­chen Ver­hand­lung in der Tat­sa­chen­in­stanz zu ent­schei­den (vgl stRspr; BSG Urteil vom 27.10.2022 — B 9 SB 4/21 R — SozR 43250 § 152 Nr 4 RdNr 18 mwN). Maß­geb­lich ist somit das SGB IX in der ab dem 1.1.2024 gel­ten­den Fas­sung des Geset­zes vom 22.12.2023 (BGBl I Nr 412).

12
C. Rechts­grund­la­ge für den Anspruch der Klä­ge­rin auf (erst­ma­li­ge) Fest­stel­lung eines GdB von 50 ab 23.4.2020 ist § 152 Abs 1 Satz 1 SGB IX, § 241 Abs 5 SGB IX iVm Teil B Nr 15.1 VMG.

13
1. Nach § 152 Abs 1 Satz 1 SGB IX stel­len die (nach Lan­des­recht) für die Durch­füh­rung des SGB XIV zustän­di­gen Behör­den auf Antrag des behin­der­ten Men­schen (vgl § 2 Abs 1 SGB IX) das Vor­lie­gen einer Behin­de­rung und den GdB zum Zeit­punkt der Antrag­stel­lung fest. Dabei werden gemäß § 152 Abs 1 Satz 4 SGB IX die Aus­wir­kun­gen auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft als GdB nach Zeh­ner­gra­den abge­stuft bewer­tet. Im Gerichts­ver­fah­ren ist die Bemes­sung des GdB grund­sätz­lich tat­rich­ter­li­che Auf­ga­be. Dabei müssen die Tat­sa­chen­ge­rich­te bei der Fest­stel­lung der ein­zel­nen nicht nur vor­über­ge­hen­den Gesund­heits­stö­run­gen (erster Schritt) in der Regel ärzt­li­ches Fach­wis­sen her­an­zie­hen. Bei der Bemes­sung der Einzel-GdB und des Gesamt-GdB kommt es indes­sen nach § 152 Abs 1 Satz 4 und Abs 3 Satz 1 SGB IX maß­geb­lich auf die Aus­wir­kun­gen der Gesund­heits­stö­run­gen auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft an. Bei diesem zwei­ten und drit­ten Prü­fungs­schritt haben die Tat­sa­chen­ge­rich­te über die medi­zi­nisch zu beur­tei­len­den Ver­hält­nis­se hinaus wei­te­re in den VMG ein­be­zo­ge­ne Umstän­de auf gesamt­ge­sell­schaft­li­chem Gebiet zu berück­sich­ti­gen (stRspr; zB BSG Urteil vom 27.10.2022 — B 9 SB 4/21 R — SozR 43250 § 152 Nr 4 RdNr 21 mwN).

14
Nach der hier wegen der Gesund­heits­stö­rung der Klä­ge­rin allein maß­geb­li­chen Rechts­grund­la­ge des Teil B Nr 15.1 VMG beträgt der von ihr bean­spruch­te GdB 50 für solche an Dia­be­tes mel­li­tus erkrank­ten Men­schen, die eine Insu­lin­the­ra­pie mit täg­lich min­des­tens vier Insu­lin­in­jek­tio­nen durch­füh­ren und die Insulin­do­sis in Abhän­gig­keit vom aktu­el­len Blut­zu­cker, der fol­gen­den Mahl­zeit und der kör­per­li­chen Belas­tung selbst­stän­dig vari­ie­ren müssen, wenn sie durch erheb­li­che Ein­schnit­te gra­vie­rend in der Lebens­füh­rung beein­träch­tigt sind.

15
a) Das LSG hat die beiden erst­ge­nann­ten, auf den The­ra­pie­auf­wand bezo­ge­nen Beur­tei­lungs­kri­te­ri­en als erfüllt ange­se­hen. Dieses Ergeb­nis wird von den Betei­lig­ten zu Recht nicht infra­ge gestellt und ist revi­si­ons­recht­lich nicht zu bean­stan­den.

16
b) Eben­falls im Ergeb­nis ohne durch­grei­fen­den Rechts­feh­ler hat das LSG ver­neint, dass die Klä­ge­rin durch erheb­li­che Ein­schnit­te iS des Teil B Nr 15.1 VMG gra­vie­rend in ihrer Lebens­füh­rung beein­träch­tigt ist. Wie das Beru­fungs­ge­richt dabei zutref­fend ange­nom­men hat, lässt sich eine solche Beein­träch­ti­gung nur unter stren­gen Vor­aus­set­zun­gen anneh­men. Allein die Ein­schnit­te, die mit der von der Vor­schrift dane­ben vor­aus­ge­setz­ten Insu­lin­the­ra­pie zwangs­läu­fig ver­bun­den sind, genü­gen nicht. Ein GdB von 50 erfor­dert viel­mehr einen dieses hohe Maß noch über­stei­gen­den, beson­de­ren The­ra­pie­auf­wand, einen unzu­rei­chen­den The­ra­pie­er­folg oder sons­ti­ge, durch die Krank­heits­fol­gen her­bei­ge­führ­te erheb­li­che Ein­schnit­te in der Lebens­füh­rung (vgl BSG Urteil vom 16.12.2014 — B 9 SB 2/13 R — SozR 43250 § 69 Nr 18 RdNr 21).

17
Solche Ein­schnit­te zeigen sich nach der Vor­stel­lung des Ver­ord­nungs­ge­bers, der inso­weit aus­drück­lich an die vor­an­ge­gan­ge­ne Senats­recht­spre­chung ange­knüpft hat (BSG Urteil vom 16.12.2014 — B 9 SB 2/13 R — SozR 43250 § 69 Nr 18 RdNr 18 mwN), bei der Pla­nung des Tages­ab­laufs, der Gestal­tung der Frei­zeit, der Zube­rei­tung der Mahl­zei­ten, der Berufs­aus­übung und der Mobi­li­tät (BR-Drucks 285/10, S 3). Ihre Fest­stel­lung erfor­dert eine am Ein­zel­fall ori­en­tier­te Beur­tei­lung, die alle die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft beein­flus­sen­den Umstän­de berück­sich­tigt (BSG Urteil vom 16.12.2014 — B 9 SB 2/13 R — SozR 43250 § 69 Nr 18 RdNr 19). Dazu zählen auch die Beson­der­hei­ten der Lebens­si­tua­tio­nen von Kin­dern und Jugend­li­chen mit Dia­be­tes mel­li­tus, die sie von ihren gesun­den Alters­ge­nos­sen unter­schei­den (vgl § 2 Abs 1 Satz 2 SGB IX und Teil A Nr 2 Buchst c; Dau, juris­PR SozR 9/2015 Anm 3; vgl aber auch LSG Nord­rhein-West­fa­len Urteil vom 17.6.2004 — L 7 SB 101/03 — juris RdNr 21). Wie sich aus § 241 Abs 5 SGB IX iVm § 30 Abs 1 Satz 4 BVG ergibt, dürfen Kinder und Jugend­li­che bei der Bemes­sung des GdB gegen­über Erwach­se­nen mit glei­cher Gesund­heits­stö­rung nicht schlech­ter gestellt werden.

18
aa) Bei der danach erfor­der­li­chen, am Ein­zel­fall ori­en­tier­ten Beur­tei­lung der dia­be­tes­be­ding­ten Ein­schnit­te in der Lebens­füh­rung ist die Klä­ge­rin als Dia­be­ti­ke­rin mit gleich­alt­ri­gen, gesun­den Kin­dern in ihrer alters­ty­pi­schen Lebens­si­tua­ti­on zu ver­glei­chen. Wie das Beru­fungs­ge­richt zutref­fend ange­nom­men hat, ist dabei eine alters­ty­pi­sche sport­li­che Betä­ti­gung oder sons­ti­ge Befä­hi­gung ein­zu­be­zie­hen, jedoch keine beson­de­re, den Alters­durch­schnitt weit über­tref­fen­de geis­ti­ge Fähig­keit oder kör­per­li­che Akti­vi­tät wie etwa das von der Klä­ge­rin aus­ge­üb­te Viel­sei­tig­keits­rei­ten, soweit es über eine alters­ty­pi­sche sport­li­che Betä­ti­gung hinaus das Niveau von Leis­tungs­sport erreicht.

19
Hier­von aus­ge­hend lässt sich auf der Grund­la­ge der Fest­stel­lun­gen des LSG bei der Klä­ge­rin im Ver­gleich zum nach § 2 Abs 1 Satz 2 SGB IX und Teil A Nr 2 Buchst c VMG maß­geb­li­chen, für ihr Lebens­al­ter typi­schen Zustand nach Gesamt­be­trach­tung aller Lebens­be­rei­che und einer an ihrem Ein­zel­fall ori­en­tier­ten Beur­tei­lung keine aus­ge­präg­te Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung durch erheb­li­che Ein­schnit­te in der Lebens­füh­rung kon­sta­tie­ren. Wie das Beru­fungs­ge­richt viel­mehr fest­ge­stellt hat, sind bei der Klä­ge­rin hypo­glyk­ämische Ent­glei­sun­gen mit erfor­der­li­cher Fremd­hil­fe im Krank­heits­ver­lauf ebenso wenig auf­ge­tre­ten wie sta­tio­nä­re Behand­lungs­be­dürf­tig­keit oder Fol­ge­schä­den an ande­ren Orga­nen. Das­sel­be gilt für nen­nens­wer­te Zeiten von “Arbeits­un­fä­hig­keit“ (gemeint: Schul­un­fä­hig­keit). Dar­über hinaus erscheint die psy­chi­sche und sozia­le Ent­wick­lung der Klä­ge­rin nach den Fest­stel­lun­gen des LSG trotz der Aus­wir­kun­gen ihres Dia­be­tes als unge­fähr­det; sie ist aus­ge­spro­chen kon­takt­freu­dig, hat viele Freun­de und prak­ti­ziert Viel­sei­tig­keits­rei­ten als Leis­tungs­sport.

20
bb) Soweit die Klä­ge­rin ein­wen­det, das Beru­fungs­ge­richt habe die indi­vi­du­el­len Umstän­de ihrer psy­chi­schen und sozia­len Ent­wick­lung nicht zutref­fend fest­ge­stellt, vermag dies die Bin­dungs­wir­kung der beru­fungs­ge­richt­li­chen Fest­stel­lun­gen nach § 163 SGG nicht infra­ge zu stel­len. Denn die Klä­ge­rin hat dage­gen keine zuläs­si­gen Ver­fah­rens­rügen erho­ben; ins­be­son­de­re hat sie keinen Ver­stoß gegen den Amts­er­mitt­lungs­grund­satz aus § 103 SGG gerügt (vgl BSG Urteil vom 24.9.2020  B 9 V 3/18 R  BSGE 131, 61 = SozR 43800 § 1 Nr 24, RdNr 40).

21
cc) Das LSG hat es im Gegen­satz zum SG auch zutref­fend abge­lehnt, allein des­halb gra­vie­ren­de Ein­schnit­te in der Lebens­füh­rung der Klä­ge­rin anzu­neh­men, weil sie bei der The­ra­pie ihres Dia­be­tes mel­li­tus im gestei­ger­ten Ausmaß dau­er­haft auf Hilfe und Beglei­tung ihrer Eltern ange­wie­sen ist.

22
Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gun­gen durch Dia­be­tes mel­li­tus können sich außer aus den Krank­heits­fol­gen als sol­chen ins­be­son­de­re auch aus the­ra­pie­be­ding­ten Ein­schrän­kun­gen in der Lebens­füh­rung und der Gestal­tung des Tages­ab­laufs erge­ben (vgl BSG Urteil vom 2.12.2010  B 9 SB 3/09 R  SozR 43250 § 69 Nr 12 RdNr 35 und 38; BSG Urteil vom 23.4.2009 — B 9 SB 3/08 R — juris RdNr 29). Das gilt beson­ders auch für Kinder wie die Klä­ge­rin. Die lebens­lan­ge Erkran­kung Dia­be­tes mel­li­tus stellt Kinder, Jugend­li­che und ihre Fami­li­en vor eine zusätz­li­che beson­de­re Lebens­auf­ga­be, die im Kon­text all­ge­mei­ner Ent­wick­lungs­auf­ga­ben zu hoher psy­cho­so­zia­ler Belas­tung und Über­for­de­rung aller Fami­li­en­mit­glie­der führen kann (vgl Deut­sche Dia­be­tes Gesell­schaft, S3-Leit­li­nie Dia­gnos­tik, The­ra­pie und Ver­laufs­kon­trol­le des Dia­be­tes mel­li­tus im Kindes- und Jugend­al­ter, Ver­si­on 4 2023, S 82 mwN). Nach den Fest­stel­lun­gen des LSG wirken sich die the­ra­peu­tisch erfor­der­li­che Beglei­tung und Über­wa­chung der Klä­ge­rin durch ihre Eltern für sich genom­men zumin­dest nicht in einem Ausmaß nach­tei­lig auf ihre gleich­be­rech­tig­te Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft aus, das als erheb­li­che Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung anzu­se­hen wäre, weil sie keine indi­vi­du­el­len Aus­wir­kun­gen wie ins­be­son­de­re schwer­wie­gen­de psy­chi­sche Folgen für die Klä­ge­rin her­vor­ge­ru­fen haben.

23
Diese Bewer­tung deckt sich im Grund­satz auch mit Sinn und Zweck der Rege­lun­gen über Assis­tenz­leis­tun­gen zur Sicher­stel­lung der Wirk­sam­keit ärzt­li­cher Leis­tun­gen als Maß­nah­men der Ein­glie­de­rungs­hil­fe nach § 90 Abs 1 Satz 1, § 78 Abs 1 Satz 2 SGB IX (vgl etwa SG Frei­burg Beschluss vom 5.12.2022  S 9 SO 3201/22 ER  juris RdNr 18). Solche Assis­tenz­leis­tun­gen erhö­hen nicht den GdB, son­dern dienen umge­kehrt gemäß § 90 Abs 1 Satz 1 SGB IX gerade dazu, die volle, wirk­sa­me und gleich­be­rech­tig­te Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft zu för­dern und damit die Aus­wir­kun­gen einer Behin­de­rung mög­lichst abzu­mil­dern oder zu besei­ti­gen. Durch­aus Ver­gleich­ba­res gilt für die Unter­stüt­zung aus fami­liä­rer Soli­da­ri­tät (vgl § 1618a BGB) bei der Dia­be­tes­the­ra­pie wie im Fall der Klä­ge­rin, die grund­sätz­lich Vor­rang gegen­über Assis­tenz­leis­tun­gen hat und sie ent­behr­lich machen kann (vgl BSG Urteil vom 12.12.2013 — B 8 SO 18/12 R — juris RdNr 18; Säch­si­sches LSG Beschluss vom 12.7.2021 — L 8 SO 29/21 B ER — juris RdNr 43; zu den men­schen­recht­li­chen Gren­zen vgl EGMR Urteil vom 20.2.2024 — 53162/21 — BeckRS 2024, 2209 RdNr 61 ff; Welti, AuR 2024 Nr 12 S 479 f.)

24
dd) Gegen eine Erhö­hung des GdB allein wegen des gestei­ger­ten Hil­fe­be­darfs von min­der­jäh­ri­gen Dia­be­tes­pa­ti­en­ten spricht sys­te­ma­tisch auch die Rege­lung des Teil B Nr 5 Buchst d Dop­pel­buchst jj VMG. Danach ist bei Kin­dern und Jugend­li­chen mit Dia­be­tes bis zum 16. Lebens­jahr Hilf­lo­sig­keit anzu­neh­men und das Merk­zei­chen H zu gewäh­ren. Die VMG tragen damit der beson­de­ren Situa­ti­on kind­li­cher und jugend­li­cher Dia­be­ti­ker mit der daraus resul­tie­ren­den dau­ern­den, erheb­li­chen Hilfs­be­dürf­tig­keit ins­be­son­de­re in Form von Über­wa­chung und Anlei­tung durch ihre Eltern (vgl Teil A Nr 4 Buchst b VMG) an ande­rer Stelle Rech­nung (vgl Lorenz in Nieder/Rieck/Losch/Thomann, Behin­de­run­gen zutref­fend ein­schät­zen und beur­tei­len, Kom­men­tar zur Vers­MedV, 2. Aufl 2024, S 247), ohne des­halb in Teil B Nr 15.1 den GdB allein wegen dieser all­ge­mein unter­stell­ten erheb­li­chen Hilfs­be­dürf­tig­keit regel­haft zu erhö­hen (vgl auch Beschlüs­se der 25. Sit­zung der Arbeits­ge­mein­schaft der ver­sor­gungs­me­di­zi­nisch täti­gen Lei­ten­den Ärz­tin­nen und Ärzte der Länder und der Bun­des­wehr vom 7. bis 8.11.2022 in Pots­dam, ver­öf­fent­licht in Arbeits­kom­pen­di­um der ver­sor­gungs­me­di­zi­nisch täti­gen Lei­ten­den Ärz­tin­nen und Ärzte der Länder und der Bun­des­wehr, Band II, Stand: Dezem­ber 2023, S 321).

25
Die VMG erwäh­nen Kinder auch nicht mehr geson­dert im Zusam­men­hang mit den Kri­te­ri­en für die GdB-Bemes­sung, anders als noch die Anhalts­punk­te für die ärzt­li­che Gut­ach­ter­tä­tig­keit im sozia­len Ent­schä­di­gungs­recht und nach dem Schwer­be­hin­der­ten­recht, Aus­ga­be 2008 in Nr 26.15 (vgl BSG Urteil vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 10/06 R — SozR 43250 § 69 Nr 9 RdNr 35). Vor diesem sys­te­ma­ti­schen Hin­ter­grund lässt sich die Beglei­tung und Über­wa­chung durch Eltern mit dem LSG als Ein­schnitt in der Lebens­füh­rung ver­ste­hen, der nach dem Rege­lungs­kon­zept der VMG zwangs­läu­fig mit der von der Vor­schrift vor­aus­ge­setz­ten Insu­lin­the­ra­pie ver­bun­den ist, aber ohne zusätz­li­che Teil­ha­be­be­schrän­kun­gen für sich genom­men keine wei­te­re GdB-Erhö­hung, son­dern “nur“ das Merk­zei­chen H recht­fer­tigt.

26
ee) Eine dau­ern­de elter­li­che Beglei­tung und Über­wa­chung min­der­jäh­ri­ger Dia­be­tes­pa­ti­en­ten kann im Ein­zel­fall trotz­dem einen höhe­ren GdB bedin­gen, wenn sie nach­weis­bar die Inte­gra­ti­ons­fä­hig­keit des Kindes erheb­lich beein­träch­tigt, etwa weil sie es in eine Son­der­stel­lung bringt, die sich nega­tiv auf seine psycho-emo­tio­na­le Ent­wick­lung aus­wirkt (vgl SG Ham­burg Gerichts­be­scheid vom 13.6.2023  S 54 SB 35/23  juris RdNr 25; SG Aachen Urteil vom 18.11.2020  S 26 SB 965/17  juris RdNr 10) oder not­wen­di­ge nächt­li­che Blut­zu­cker­kon­trol­len der Eltern seinen Schlaf in teil­ha­be­re­le­van­ter Weise stören (vgl Lorenz in Nieder/Rieck/Losch/Thomann, Behin­de­run­gen zutref­fend ein­schät­zen und beur­tei­len, Kom­men­tar zur Vers­MedV, 2. Aufl 2024, S 247). Dadurch ver­ur­sach­te zusätz­li­che Ein­schnit­te in der Lebens­füh­rung müssen aller­dings aus­rei­chend gewich­tig sein, um bei der Bewer­tung des GdB für Dia­be­tes das Über­schrei­ten der Schwel­le zur Schwer­be­hin­de­rung recht­fer­ti­gen zu können. Inso­weit wäre zur Kon­trol­le für die Maß­stabs­bil­dung der Ver­gleich zu den Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gun­gen ande­rer Behin­de­run­gen her­an­zu­zie­hen, für die im Tabel­len­teil der VMG ein Wert von 50 fest vor­ge­ge­ben ist (vgl BSG Urteil vom 16.12.2014 — B 9 SB 2/13 R — SozR 43250 § 69 Nr 18 RdNr 24). Sol­cher­ma­ßen erheb­li­che Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gun­gen durch die not­wen­di­ge Beglei­tung und Über­wa­chung der Klä­ge­rin durch ihre Eltern wegen ihres Dia­be­tes mel­li­tus lassen sich jedoch weder den Fest­stel­lun­gen des LSG noch dem Sach­vor­trag der Klä­ge­rin ent­neh­men. Die bloße Mög­lich­keit, dass sie ohne deren Auf­sicht und Beglei­tung weit­ge­hend von für ihre gesell­schaft­li­che Teil­ha­be rele­van­ten Akti­vi­tä­ten aus­ge­schlos­sen sein könnte, reicht hin­ge­gen nicht.

27
2. Die Kos­ten­ent­schei­dung ergibt sich aus § 193 SGG und folgt der Ent­schei­dung in der Haupt­sa­che.