Tenor

Die Revi­si­on der Klä­ge­rin gegen das Urteil des Lan­des­so­zi­al­ge­richts Sach­sen-Anhalt vom 21. Febru­ar 2012 wird zurück­ge­wie­sen.

Die Betei­lig­ten haben ein­an­der auch für das Revi­si­ons­ver­fah­ren keine außer­ge­richt­li­chen Kosten zu erstat­ten.

Tat­be­stand

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Strei­tig ist, ob die Klä­ge­rin einen Anspruch auf Fest­stel­lung eines Grades der Behin­de­rung (GdB) von 50 nach dem Schwer­be­hin­der­ten­recht hat.
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Auf den Antrag der 1954 gebo­re­nen Klä­ge­rin vom 20.4.2010 stell­te das beklag­te Land nach Bei­zie­hung eines Befund­be­richts und einer ver­sor­gungs­ärzt­li­chen Stel­lung­nah­me mit Bescheid vom 22.7.2010 wegen eines Dia­be­tes mel­li­tus einen GdB von 30 ab April 2010 fest. Nach­dem die Klä­ge­rin im Wider­spruchs­ver­fah­ren Aus­zü­ge ihres Dia­be­ti­ker­ta­ge­buchs vor­ge­legt hatte, holte der Beklag­te wei­te­re ver­sor­gungs­ärzt­li­che Stel­lung­nah­men ein. Die Ver­sor­gungs­ärz­tin S. führte unter dem 23.12.2010 aus: Die vor­ge­leg­te Doku­men­ta­ti­on umfas­se einen Zeit­raum von 96 Tagen. Die Klä­ge­rin messe vier bis acht­mal täg­lich den Blut­zu­cker und inji­zie­re zwei bis vier­mal täg­lich Bolu­s­in­su­lin und einmal täg­lich Basis­in­su­lin. An min­des­tens 35 Tagen habe die Dosis nicht ange­passt werden müssen. An den rest­li­chen Tagen seien ein bis drei Kor­rek­tur­injek­tio­nen vor­ge­nom­men worden. Eine für einen GdB von 50 erfor­der­li­che stän­di­ge Anpas­sung der Insulin­do­sie­rung sei daher nicht zu bestä­ti­gen. Es werde ein Gesamt-GdB von 40 vor­ge­schla­gen. Hier­auf gestützt änder­te der Beklag­te mit Wider­spruchs­be­scheid vom 27.12.2010 den ange­foch­te­nen Bescheid unter Zurück­wei­sung des Wider­spruchs im Übri­gen dahin ab, dass ab April 2010 der GdB 40 betra­ge. Zur Begrün­dung gab er den Inhalt der ver­sor­gungs­ärzt­li­chen Stel­lung­nah­me vom 23.12.2010 weit­ge­hend wört­lich wieder.
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Das von der Klä­ge­rin dar­auf­hin ange­ru­fe­ne Sozi­al­ge­richt Mag­de­burg (SG) hat mit Urteil vom 14.3.2011 den ange­foch­te­nen Ver­wal­tungs­akt geän­dert und den Beklag­ten ver­ur­teilt, bei der Klä­ge­rin ab April 2010 einen GdB von 50 fest­zu­stel­len. In den Ent­schei­dungs­grün­den heißt es: Bei der Klä­ge­rin seien die Vor­aus­set­zun­gen für einen GdB von 50 bei Dia­be­tes mel­li­tus erfüllt, wie sie in Teil B Nr 15.1 Ver­sor­gungs­me­di­zi­ni­sche Grund­sät­ze in der Fas­sung vom 14.7.2010 gere­gelt seien, die auch für die Zeit davor gälten. Die Klä­ge­rin führe eine Insu­lin­the­ra­pie durch, bei der sie täg­lich ein lang­wir­ken­des Basis­in­su­lin und jeweils vor den Mahl­zei­ten ein schnell wir­ken­des Insu­lin sprit­ze. Die Tat­sa­che, dass sich die Klä­ge­rin nach ihren Auf­zeich­nun­gen an eini­gen Tagen nur drei Insu­lin­in­jek­tio­nen ver­ab­reicht habe, sei darauf zurück­zu­füh­ren, dass sie an diesen Tagen nur zwei Mahl­zei­ten zu sich genom­men habe. Damit habe die Klä­ge­rin aber die Vor­aus­set­zun­gen der Ver­ord­nung sinn­ge­mäß erfüllt, denn die Vor­schrift wolle gerade die Fälle erfas­sen, in denen — wie hier — täg­lich einmal Basis­in­su­lin und vor jeder Mahl­zeit, also übli­cher­wei­se drei­mal, ein Mahl­zei­ten­in­su­lin gespritzt werde. Die wei­te­re For­mu­lie­rung “… Men­schen, die … durch erheb­li­che Ein­schnit­te gra­vie­rend in der Lebens­füh­rung beein­träch­tigt sind” stelle kein wei­te­res Tat­be­stands­merk­mal dar, son­dern eine Bewer­tung der Situa­ti­on der Betrof­fe­nen, die den genann­ten The­ra­pie­auf­wand betrei­ben müss­ten.
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Im danach vom Beklag­ten ver­an­lass­ten Beru­fungs­ver­fah­ren hat das Lan­des­so­zi­al­ge­richt Sach­sen-Anhalt (LSG) die Klä­ge­rin per­sön­lich ange­hört sowie einen Befund­be­richt von Dr. K. vom 6.9.2011 ein­ge­holt. Ferner hat es zwei vom Beklag­ten vor­ge­leg­te ver­sor­gungs­ärzt­li­che Stel­lung­nah­men von Dr. S. vom 30.9.2011 und Dr. W. vom 13.2.2012 zu den Akten genom­men. Durch Urteil vom 21.2.2012 hat das LSG das Urteil des SG auf­ge­ho­ben und die Klage abge­wie­sen. Seine Ent­schei­dung hat es auf fol­gen­de Erwä­gun­gen gestützt:
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Die Klä­ge­rin sei durch den ange­foch­te­nen Bescheid nicht in ihren Rech­ten ver­letzt, da der fest­ge­stell­te GdB von 40 recht­mä­ßig sei. Rechts­grund­la­ge für die Beur­tei­lung des GdB seien § 69 Abs 1 SGB IX sowie die Ver­sor­gungs­me­di­zi­ni­schen Grund­sät­ze als Anlage zu § 2 der Ver­sor­gungs­me­di­zin-Ver­ord­nung (Anl Vers­MedV) vom 10.12.2008. Das zen­tra­le Leiden der Klä­ge­rin betref­fe das Funk­ti­ons­sys­tem “Innere Sekre­ti­on und Stoff­wech­sel” und werde durch den insu­lin­pflich­ti­gen Dia­be­tes mel­li­tus geprägt. Auf der Grund­la­ge der Zwei­ten Ver­ord­nung zur Ände­rung der Vers­MedV vom 14.7.2010 ergebe sich bei der Klä­ge­rin ein GdB von 40. Dem­ge­gen­über setze ein GdB von 50 min­des­tens vier Insu­lin­in­jek­tio­nen pro Tag, ein selbst­stän­di­ges Anpas­sen der Insulin­do­sis sowie gra­vie­ren­de und erheb­li­che Ein­schnit­te in der Lebens­füh­rung voraus.
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Diese Anfor­de­run­gen errei­che die Klä­ge­rin nicht. Sie führe nicht stän­dig eine Insu­lin­the­ra­pie mit täg­lich min­des­tens vier Insu­lin­in­jek­tio­nen durch, wie dies die Ver­sor­gungs­ärz­tin S. unter dem 23.12.2010 über­zeu­gend aus­ge­führt habe. Auch komme es nach der Ein­schät­zung der Ver­sor­gungs­ärz­te nach Aus­wer­tung der Unter­la­gen nicht zu einer “stän­di­gen” Dosis­an­pas­sung der Insu­lin­ga­be. Damit bewege sich die Klä­ge­rin bereits unter­halb des Min­dest­um­fangs des The­ra­pie­auf­wan­des, den die Vers­MedV für die Fest­stel­lung eines GdB von 50 ver­lan­ge. Neben der täg­li­chen Injek­ti­on mit einem lang­wirk­sa­men Insu­lin müsse die Klä­ge­rin bei hohen Mor­gen­wer­ten zu jeder Mahl­zeit und bei Neben­er­kran­kun­gen das kurz­wir­ken­de Insu­lin ein­set­zen und dabei auch die jewei­li­ge Dosis vari­ie­ren. Das sei jedoch nicht stän­dig der Fall, son­dern offen­bar von den jewei­li­gen Begleit­um­stän­den (All­tags­be­las­tung, beruf­li­che Anfor­de­run­gen, Rei­se­tä­tig­keit usw) abhän­gig. Hinzu kämen stän­di­ge Blut­zu­cker­mes­sun­gen zu jeder Mahl­zeit und gege­be­nen­falls bis zu sechs­mal täg­lich, die jedoch nach den ver­sor­gungs­me­di­zi­ni­schen Grund­sät­zen nicht erhö­hend zu berück­sich­ti­gen seien.
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Selbst wenn man zu Guns­ten der Klä­ge­rin einen The­ra­pie­auf­wand von min­des­tens vier Insu­lin­in­jek­tio­nen und eine stän­di­ge Dosis­an­pas­sung anneh­men würde, fehle es jeden­falls an erheb­li­chen Ein­schnit­ten, die sich so gra­vie­rend auf ihre Lebens­füh­rung aus­wirk­ten, dass die Fest­stel­lung der Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft gerecht­fer­tigt werden könne. Die Klä­ge­rin werde trotz des ein­schrän­ken­den The­ra­pie­auf­wan­des nicht noch zusätz­lich durch eine schlech­te Ein­stel­lungs­qua­li­tät in ihrer Leis­tungs­fä­hig­keit und damit in ihrer Teil­ha­be­fä­hig­keit erheb­lich beein­träch­tigt. So gehe sie nach ihren eige­nen Anga­ben einer Außen­dienst­tä­tig­keit mit hohem und belas­tungs­in­ten­si­ven Anfor­de­rungs­pro­fil nach und bewäl­ti­ge diese Anstren­gun­gen offen­bar ohne wesent­li­che krank­heits­be­ding­ten Ein­schrän­kun­gen seit vielen Jahren. Zu schwe­ren hypo­glyk­ämischen Ent­glei­sun­gen sei es bei der Klä­ge­rin nach Beginn der Insu­lin­the­ra­pie noch nie gekom­men. Auch seien wesent­li­che Fol­ge­schä­den noch nicht ein­ge­tre­ten.
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Mit ihrer — vom LSG zuge­las­sen — Revi­si­on rügt die Klä­ge­rin die Ver­let­zung for­mel­len und mate­ri­el­len Rechts.
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Das ange­foch­te­ne Urteil sei iS der § 136 Abs 1 Nr 6, § 128 Abs 1 S 2 SGG nicht hin­rei­chend mit Grün­den ver­se­hen. Das LSG habe seiner Ent­schei­dung allein die Fas­sung des Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV in der ab dem 22.7.2010 gel­ten­den Fas­sung (nF) zugrun­de gelegt, obwohl strei­tig auch die Höhe des GdB in der Zeit von April 2010 bis zum 21.7.2010 sei. Für diesen Zeit­raum fehle es an einer Begrün­dung für die Fest­stel­lung des GdB.
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Das LSG habe zudem ihr Recht auf recht­li­ches Gehör (§ 128 Abs 2 SGG) dadurch ver­letzt, dass es seine Ent­schei­dung maß­ge­bend auf die Stel­lung­nah­me der Ver­sor­gungs­ärz­tin S. vom “30.12.2010” gestützt habe, ohne ihr diese Stel­lung­nah­me zuvor zugäng­lich gemacht zu haben. Da das LSG erst­mals im Urteil auf diese im Ver­wal­tungs­ver­fah­ren erstell­te ver­sor­gungs­ärzt­li­che Stel­lung­nah­me ein­ge­gan­gen sei, sei sie dadurch unzu­läs­sig über­rascht worden. Auf­grund des Ver­laufs des Erör­te­rungs­ter­mins vom 21.12.2011, der von ihr danach vor­ge­leg­ten Mess­do­ku­men­ta­tio­nen von April 2010 und der ver­sor­gungs­ärzt­li­chen Stel­lung­nah­me vom 13.2.2012 habe sie nicht damit rech­nen müssen, dass das LSG die ver­sor­gungs­ärzt­li­che Stel­lung­nah­me vom “30.12.2010” zur Urteils­be­grün­dung her­an­zie­hen würde. Hätte man sie vorab darauf hin­ge­wie­sen, hätte sie ihr Tage­buch erneut vor­ge­legt und anhand dessen nach­ge­wie­sen, dass sie sehr wohl — täg­lich — min­des­tens vier Insu­lin­in­jek­tio­nen durch­füh­re.
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Soweit das LSG seine Ver­nei­nung eines GdB von 50 darauf gestützt habe, dass sie über Jahre hinweg beruf­lich und privat ohne gra­vie­ren­de Ein­schrän­kun­gen lebe, habe es nicht erken­nen lassen, dass es die für diese Beur­tei­lung erfor­der­li­che sozio­lo­gi­sche und sozi­al­me­di­zi­ni­sche Sach­kun­de besit­ze. Diese Unter­las­sung mache das Urteil eben­falls zur einer Über­ra­schungs­ent­schei­dung.
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Schließ­lich habe das LSG auch seine Pflicht zur Sach­ver­halts­auf­klä­rung nach § 103 SGG ver­letzt. Das Gericht habe Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV idF vom 14.7.2010 (nF) dahin aus­ge­legt, dass zusätz­lich zum The­ra­pie­auf­wand (von min­des­tens vier Insu­lin­in­jek­tio­nen täg­lich) erheb­li­che Ein­schnit­te in der Lebens­füh­rung vor­lie­gen müss­ten. Die Ver­sor­gungs­me­di­zi­ni­schen Grund­sät­ze hätten zwar nor­m­ähn­li­chen Cha­rak­ter, inhalt­lich seien sie jedoch anti­zi­pier­te Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten. Deren Inhalt gehöre zur Erfor­schung des Sach­ver­halts, sodass dies­be­züg­li­che Zwei­fel regel­mä­ßig durch Nach­fra­ge bei dem geschäfts­füh­rend täti­gen Bun­des­mi­nis­te­ri­um zu klären seien. Wenn das LSG sein Ver­ständ­nis von den erheb­li­chen Ein­schnit­ten in die Lebens­füh­rung, die für die Beur­tei­lung der Teil­ha­be­ein­schrän­kun­gen im Fall eines insu­lin­pflich­ti­gen Dia­be­tes mit einem GdB von 50 zwin­gend vor­lie­gen müss­ten, seinem Urteil habe zugrun­de legen wollen, hätte es sich nicht damit begnü­gen dürfen, Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV selbst aus­zu­le­gen. Es hätte sich viel­mehr gedrängt fühlen müssen, eine Aus­kunft bei dem zustän­di­gen Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Arbeit und Sozia­les ein­zu­ho­len, wie die erheb­li­chen Ein­schnit­te in die Lebens­füh­rung bei der Fest­set­zung des GdB zu berück­sich­ti­gen seien. Eine derart durch­ge­führ­te Klä­rung hätte zu dem Ergeb­nis führen können, dass allein der The­ra­pie­auf­wand von min­des­tens vier Insu­lin­in­jek­tio­nen täg­lich mit einer selbst­stän­dig vor­zu­neh­men­den Varia­ti­on der Insulin­do­sis die Fest­stel­lung eines GdB von 50 recht­fer­ti­ge.
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Das LSG habe ua dem Urteil des BSG vom 2.12.2010 — B 9 SB 3/09 R — folgen wollen. Nach dieser Ent­schei­dung seien Sach­ver­halts­er­mitt­lun­gen dazu vor­zu­neh­men, ob der The­ra­pie­auf­wand aus medi­zi­ni­schen Grün­den nach Ort, Zeit oder Art und Weise fest­ge­legt sei, ob eine Ver­nach­läs­si­gung der the­ra­peu­ti­schen Maß­nah­men gra­vie­ren­de Folgen haben könne und ob die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft in ande­ren Lebens­be­rei­chen wegen des zeit­li­chen Umfangs der The­ra­pie erheb­lich beein­träch­tigt sei. Dem­entspre­chend hätte das LSG sich gedrängt fühlen müssen, ent­spre­chen­de Sach­ver­halts­er­mitt­lun­gen zu den Ein­schnit­ten in die Lebens­füh­rung ent­spre­chend dem Urteil des BSG vom 2.12.2010 vor­zu­neh­men, was es jedoch unter­las­sen habe. Diese feh­len­den Sach­ver­halts­er­mitt­lun­gen seien auch nicht in den Stel­lung­nah­men der Ver­sor­gungs­ver­wal­tung ent­hal­ten, auf die das Beru­fungs­ge­richt seine Beweis­wür­di­gung in sehr ein­sei­ti­ger Weise stütze.
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Mate­ri­ell-recht­lich habe das LSG § 69 Abs 1 und 3 SGB IX ver­letzt. Für den Zeit­raum von der Antrag­stel­lung im April 2010 bis zum 21.7.2010 hätte das LSG die Grund­sät­ze des Urteils des BSG vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 10/06 R — anwen­den müssen. Danach sei für die Fest­stel­lung des GdB neben der Ein­stel­lungs­qua­li­tät auch der The­ra­pie­auf­wand zu beur­tei­len, soweit er sich auf die Teil­ha­be des behin­der­ten Men­schen am Leben in der Gesell­schaft nach­tei­lig aus­wir­ke. Hier­bei sei auch das Ergeb­nis der the­ra­peu­ti­schen Maß­nah­men, ins­be­son­de­re die erreich­te Stoff­wech­sel­la­ge zu betrach­ten. Der GdB sei rela­tiv nied­rig anzu­set­zen, wenn mit gerin­gem The­ra­pie­auf­wand eine aus­ge­gli­che­ne Stoff­wech­sel­la­ge erreicht werden könne. Mit in beein­träch­ti­gen­der Weise wach­sen­dem The­ra­pie­auf­wand und bzw oder abneh­men­dem The­ra­pie­er­folg im Sinne einer insta­bi­le­ren Stoff­wech­sel­la­ge werde der GdB höher ein­zu­schät­zen sein. In einem ersten Schritt sei der The­ra­pie­auf­wand fest­zu­stel­len. In einem zwei­ten Schritt sei die Stoff­wech­sel­la­ge zu beur­tei­len und in einem drit­ten Schritt wären die Aus­wir­kun­gen auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft in Betracht zu ziehen. Ent­spre­chen­de Sach­ver­halts­er­mitt­lun­gen hierzu habe das LSG nicht ange­stellt.
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Auf der Grund­la­ge der ver­sor­gungs­ärzt­li­chen Stel­lung­nah­men habe das LSG den GdB unzu­tref­fend beur­teilt. Schon der unmit­tel­ba­re The­ra­pie­auf­wand sei erheb­lich. Zudem sei zu berück­sich­ti­gen, dass, würde sie nicht so dis­zi­pli­niert leben, Stoff­wech­sel­ent­glei­sun­gen die Folge wären. Soweit das LSG bei ihr von einer sta­bi­len Stoff­wech­sel­la­ge auf einen gerin­ge­ren GdB als 50 geschlos­sen habe, sei dieser Rück­schluss in der All­ge­mein­heit nicht zuläs­sig. Gerade ihre hohe Dis­zi­plin und vor­aus­schau­en­de Pla­nung sowie ihre bewuss­te Lebens­füh­rung führ­ten dazu, dass die Folgen des Dia­be­tes bei ihr bisher gering geblie­ben seien. Ihr dies zum Nach­teil gerei­chen zu lassen, würde bedeu­ten, dass der dis­zi­plin­lo­se Behin­der­te mit einem höhe­ren GdB “belohnt” werde und der­je­ni­ge Behin­der­te, der sich inten­siv um die Bekämp­fung der Folgen der Erkran­kung küm­me­re und einen ent­spre­chen­den Zeit­auf­wand dafür betrei­be, mit einem gerin­ge­ren GdB “bestraft” werde. Zudem habe das LSG die Aus­wir­kun­gen des Dia­be­tes auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft an Behin­de­run­gen gemes­sen, die mit ihrer Erkran­kung nicht ver­gleich­bar seien.
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Für die Zeit ab dem 22.7.2010 habe das LSG zwar rich­ti­ger Weise Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV nF zugrun­de gelegt. Das LSG miss­ver­ste­he jedoch die im vor­lie­gen­den Fall ein­schlä­gi­ge Vari­an­te der Ziff 15.1, nach der der GdB 50 beträgt. Diese Vari­an­te beinhal­te einer­seits den The­ra­pie­auf­wand, der mit täg­lich min­des­tens vier Insu­lin­in­jek­tio­nen ange­ge­ben werde, und die Insulin­do­sis, die in Abhän­gig­keit vom aktu­el­len Blut­zu­cker, der jeweils fol­gen­den Mahl­zeit und der kör­per­li­chen Belas­tung selbst­stän­dig zu vari­ie­ren sei. Schon wenn, wie in ihrem Fall, die vier Insu­lin­in­jek­tio­nen täg­lich durch­ge­führt werden müss­ten, sei der GdB mit 50 fest­zu­set­zen. Ent­ge­gen der Auf­fas­sung des LSG bedür­fe es nicht zusätz­lich noch wei­te­rer, erheb­li­cher Ein­schnit­te in die Lebens­füh­rung. Der The­ra­pie­auf­wand von min­des­tens vier Insu­lin­in­jek­tio­nen täg­lich erfas­se den in der Summe erheb­li­chen zeit­li­chen Auf­wand zB für regel­mä­ßi­ge Arzt­be­su­che, den Ein­kauf von Medi­ka­men­ten und Sprit­zu­ten­si­li­en, die Pla­nung des Tages­ab­laufs, den Auf­wand für das Sprit­zen selbst, die Ver­mei­dung von rück­fall­ge­fähr­den­den Ver­hal­tens­wei­sen, das Auf­su­chen von Orten für die Injek­tio­nen sowie aktive Vor­keh­run­gen zum Aus­gleich von poten­zi­el­len Gesund­heits­ri­si­ken. Da der Begriff The­ra­pie­auf­wand nach der Recht­spre­chung des BSG weit zu fassen sei und dar­un­ter die Gesamt­heit der Maß­nah­men zur Behand­lung einer Krank­heit mit dem Ziel der Wie­der­her­stel­lung der Gesund­heit, der Lin­de­rung der Beschwer­den und der Ver­hin­de­rung von Rück­fäl­len zu ver­ste­hen sei, sei der The­ra­pie­auf­wand zur Her­stel­lung einer guten Stoff­wech­sel­la­ge ein geeig­ne­ter Maß­stab. Das LSG ver­ken­ne diesen Begriff, wenn es den GdB primär danach beur­tei­le, welche Ein­schnit­te sie jen­seits der­je­ni­gen, die im Zusam­men­hang mit den Insu­lin­ver­ab­rei­chun­gen stün­den, hin­zu­neh­men habe. Wenn das Insu­lin infol­ge tro­pi­scher Tem­pe­ra­tu­ren unbrauch­bar werde, habe das mit­tel­bar eben­falls mit dem The­ra­pie­auf­wand zu tun. Nicht­be­hin­der­te müss­ten sich inso­weit nicht mit ent­spre­chen­den zusätz­li­chen Vor­keh­run­gen gegen Hitze oder auch Dieb­stahl der Insu­lin­ta­sche belas­ten.
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Nach den Bewer­tungs­grund­sät­zen in Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV nF würden die bei der GdB-Bewer­tung zu berück­sich­ti­gen­den Teil­ha­be­stö­run­gen unter dem Ober­be­griff “Ein­schnit­te in die Lebens­füh­rung” zusam­men­ge­fasst. Der The­ra­pie­auf­wand und die damit ver­bun­de­nen Ein­schnit­te in die Lebens­füh­rung seien aber nicht die ein­zi­ge Art und Weise, wie die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft durch den Dia­be­tes mel­li­tus beschränkt werde. Soweit sie ihren Aus­schluss von bestimm­ten Sport­ar­ten geschil­dert habe, gehe es indes nicht um den The­ra­pie­auf­wand, son­dern um den Aus­schluss von Mög­lich­kei­ten, die Frei­zeit zu gestal­ten und damit um Teil­ha­be­mög­lich­kei­ten am Leben in der Gesell­schaft. Werde Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV nF in dieser Weise ver­stan­den und ange­wen­det, sei ihr GdB mit min­des­tens 50 fest­zu­set­zen.
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Die Klä­ge­rin bean­tragt,

das Urteil des Lan­des­so­zi­al­ge­richts Sach­sen-Anhalt vom 21. Febru­ar 2012 auf­zu­he­ben und die Beru­fung des Beklag­ten gegen das Urteil des Sozi­al­ge­richts Mag­de­burg vom 14. März 2011 zurück­zu­wei­sen.

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Der Beklag­te bean­tragt,

die Revi­si­on zurück­zu­wei­sen.

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Er trägt im Wesent­li­chen vor: Eine Ver­let­zung der von der Klä­ge­rin genann­ten Ver­fah­rens­vor­schrif­ten liege seines Erach­tens nicht vor. Ins­be­son­de­re sei die ver­sor­gungs­ärzt­li­che Stel­lung­nah­me vom 23.12.2010 nahezu wört­lich im Wider­spruchs­be­scheid wie­der­ge­ge­ben. Auf der Grund­la­ge der Zwei­ten Ver­ord­nung zur Ände­rung der Vers­MedV vom 14.7.2010 sei der GdB mit 40 kor­rekt bewer­tet. Danach sei Vor­aus­set­zung für die Fest­stel­lung der Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft neben der täg­lich vier­ma­li­gen Insu­lin­in­jek­ti­on bei jewei­li­ger Anpas­sung der Dosis eine gra­vie­ren­de Beein­träch­ti­gung der Lebens­füh­rung. Das wäre der Fall, wenn sich die Stoff­wech­sel­la­ge trotz des defi­nier­ten täg­li­chen The­ra­pie­auf­wan­des wei­ter­hin so unbe­frie­di­gend zeige, dass eine gra­vie­ren­de Beein­träch­ti­gung der Lebens­füh­rung nach­voll­zieh­bar sei. Nicht der Fall sei dies, wenn sich die Stoff­wech­sel­la­ge im Ergeb­nis des the­ra­peu­ti­schen Auf­wan­des — wie im Fall der Klä­ge­rin — über­wie­gend als gut ein­ge­stellt erwei­se. Dieses Recht­ver­ständ­nis werde von der Begrün­dung der Ände­rungs­ver­ord­nung gestützt.

Ent­schei­dungs­grün­de

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Die Revi­si­on der Klä­ge­rin ist zuläs­sig. Sie ist Kraft Zulas­sung durch das LSG statt­haft und inner­halb der gesetz­li­chen Fris­ten ein­ge­legt und begrün­det worden. Die Begrün­dung genügt den Anfor­de­run­gen des § 164 Abs 2 S 3 SGG.
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Die Revi­si­on ist unbe­grün­det.
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Einer Sach­ent­schei­dung des Senats stehen Mängel des vor­in­stanz­li­chen Ver­fah­rens nicht ent­ge­gen. Klage und Beru­fung sind zuläs­sig. Gegen­stand des Revi­si­ons­ver­fah­rens ist die Auf­he­bung des Beru­fungs­ur­teils, mit dem die Klage abge­wie­sen worden ist. Die Klä­ge­rin erstrebt die Wie­der­her­stel­lung des Urteils des SG, mit dem der Beklag­te ver­ur­teilt worden ist, den GdB der Klä­ge­rin ab April 2010 mit 50 fest­zu­stel­len. Dieses pro­zes­sua­le Ziel, das die Klä­ge­rin zuläs­si­ger­wei­se mit der kom­bi­nier­ten Anfech­tungs- und Ver­pflich­tungs­kla­ge (§ 54 Abs 1 S 1 SGG — zur statt­haf­ten Kla­ge­art vgl BSG Urteil vom 12.4.2000 — B 9 SB 3/99 R — SozR 3–3870 § 3 Nr 9 S 21 f; Urteil vom 2.12.2010 — B 9 SB 3/09 R — SozR 4–3250 § 69 Nr 12 RdNr 11) ver­folgt, erreicht sie nicht.
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Zunächst ist die Rüge, das ange­foch­te­ne Urteil sei iS der § 136 Abs 1 Nr 6, § 128 Abs 1 S 2 SGG nicht mit Grün­den ver­se­hen, jeden­falls unbe­grün­det. Es trifft zwar zu, dass das LSG auch für den Beur­tei­lungs­zeit­raum vor dem 22.7.2010 (ohne nähere Begrün­dung) Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV idF vom 14. 7.2010 (nF) zu Grunde gelegt hat. Inso­weit fehlen jedoch keine Ent­schei­dungs­grün­de. Das LSG hat ledig­lich nicht deut­lich gemacht, warum es die erst am 22.7.2010 in Kraft getre­te­nen Bestim­mun­gen auch für die Zeit davor als maß­geb­lich ansieht. Soweit die Klä­ge­rin der Ansicht ist, das LSG habe inso­weit einen fal­sche Rechts­grund­la­ge ange­wen­det, betrifft ihre Rüge einen Rechts­an­wen­dungs­feh­ler, jedoch keinen Ver­fah­rens­man­gel (zum Begriff Ver­fah­rens­man­gel s Leit­he­rer in Meyer-Lade­wi­g/Kel­ler/­Leit­he­rer, SGG 10. Aufl 2012, § 144 RdNr 32 mwN).
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Der Anspruch der Klä­ge­rin auf Fest­stel­lung eines GdB von 50 rich­tet sich nach § 69 Abs 1 und 3 SGB IX vom 19.6.2001 (BGBl I 1046, 1047) idF vom 13.12.2007 (BGBl I 2904). Nach § 69 Abs 1 S 1 SGB IX stel­len die für die Durch­füh­rung des Bun­des­ver­sor­gungs­ge­set­zes (BVG) zustän­di­gen Behör­den auf Antrag des behin­der­ten Men­schen in einem beson­de­ren Ver­fah­ren das Vor­lie­gen einer Behin­de­rung und den GdB fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs 1 S 4 SGB IX die Aus­wir­kun­gen auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft nach Zeh­ner­gra­den abge­stuft fest­ge­stellt. Gemäß § 69 Abs 1 S 5 SGB IX gelten die Maß­stä­be des § 30 Abs 1 BVG ent­spre­chend. Durch diesen Ver­weis auf § 30 Abs 1 BVG stellt § 69 SGB IX auf das ver­sor­gungs­recht­li­che Bewer­tungs­sys­tem ab, dessen Aus­gangs­punkt die “Min­dest­vom­hun­dert­sät­ze” für eine grö­ße­re Zahl erheb­li­cher äuße­rer Kör­per­schä­den iS der Nr 5 All­ge­mei­ne Ver­wal­tungs­vor­schrif­ten zu § 30 BVG sind. Die wei­te­re Bezug­nah­me in § 69 Abs 1 S 5 SGB IX betrifft die auf­grund des § 30 Abs 17 BVG erlas­se­ne Ver­ord­nung zur Durch­füh­rung des § 1 Abs 1 und 3, des § 30 Abs 1 und des § 35 Abs 1 BVG (Vers­MedV) vom 10.12.2008 (BGBl I 2412), die zuletzt durch die Ver­ord­nung vom 11.10.2012 (BGBl I 2122) geän­dert worden ist (vgl auch BSG Urteil vom 30.9.2009 — B 9 SB 4/08 R — SozR 4–3250 § 69 Nr 10 RdNr 16 f). Als Anlage zu § 2 Vers­MedV sind “Ver­sor­gungs­me­di­zi­ni­sche Grund­sät­ze” (Anl Vers­MedV) ver­öf­fent­licht worden, in denen ua die Grund­sät­ze für die Fest­stel­lung des Grades der Schä­di­gungs­fol­gen (GdS) iS des § 30 Abs 1 BVG fest­ge­legt worden sind.
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Die zum 1.1.2009 in Kraft getre­te­ne Anl Vers­MedV stellt ihrem Inhalt nach nicht nur eine Kon­kre­ti­sie­rung der Rege­lung des § 69 SGB IX, son­dern auch ein anti­zi­pier­tes Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten dar (stRspr des BSG; vgl Urteil vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 10/06 R — SozR 4–3250 § 69 Nr 9 RdNr 25 mwN; vgl auch zur Rechts­la­ge nach dem Schwer­be­hin­der­ten­ge­setz: BVerfG Beschluss vom 6.3.1995 — 1 BvR 60/95 — SozR 3–3870 § 3 Nr 6 S 11 f). Sie berück­sich­tigt dabei den Behin­de­rungs­be­griff der “Inter­na­tio­na­len Klas­si­fi­ka­ti­on der Funk­ti­ons­fä­hig­keit und Behin­de­rung” (deren Wei­ter­ent­wick­lung wurde im Mai 2001 von der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on als ICF ver­ab­schie­det) als Grund­la­ge des Bewer­tungs­sys­tems, auch wenn dieses Klas­si­fi­ka­ti­ons­mo­dell darin bis­lang noch nicht über­all kon­se­quent umge­setzt worden ist (vgl Vers­MedV, Ein­lei­tung S 5, 1. Aufl 2009). Dabei beruht das für die Aus­wir­kun­gen von Gesund­heits­stö­run­gen auf die Teil­ha­be im Leben in der Gesell­schaft rele­van­te Maß nicht allein auf der Anwen­dung medi­zi­ni­schen Wis­sens. Viel­mehr ist die GdB-Bewer­tung auch unter Beach­tung der recht­li­chen Vor­ga­ben sowie unter Her­an­zie­hung des Sach­ver­stan­des ande­rer Wis­sens­zwei­ge zu ent­wi­ckeln (vgl BSG Urteil vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 10/06 R — SozR 4–3250 § 69 Nr 9 RdNr 28; BSG Urteil vom 29.8.1990 — 9a/9 RVs 7/89 — BSGE 67, 204, 208 = SozR 3–3870 § 4 Nr 1 S 5 f; dazu auch Masuch, Soz­Sich 2004, 314, 315; Straß­feld, SGb 2003, 613).
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Dem trägt die Anl Vers­MedV im Grund­satz Rech­nung. Dem­entspre­chend ist deren Inhalt nicht (aus­schließ­lich) mit Hilfe juris­ti­scher Aus­le­gungs­me­tho­den zu ermit­teln; viel­mehr sind dies­be­züg­li­che Zwei­fel vor­zugs­wei­se durch Nach­fra­ge bei dem ver­ant­wort­li­chen Urhe­ber, hier also beim “Ärzt­li­chen Sach­ver­stän­di­gen­bei­rat Ver­sor­gungs­me­di­zin” bzw dem für diesen geschäfts­füh­rend täti­gen Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Arbeit und Sozia­les — BMAS (§ 3 Vers­MedV), zu klären (vgl zB dazu BSG Urteil vom 24.4.2008 aaO). Dar­über hinaus ist die Vers­MedV (nebst Anlage) an den recht­li­chen Vor­ga­ben der §§ 2, 69 SGB IX zu messen. Dazu gehört, dass sie dem aktu­el­len Stand der Medi­zin ent­spre­chen muss (vgl dazu BSG Urteil vom 18.9.2003 — B 9 SB 3/02 R — BSGE 91, 205 = SozR 4–3250 § 69 Nr 2 jeweils RdNr 14; Urteil vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 10/06 R — SozR 4–3250 § 69 Nr 9 RdNr 25; Urteil vom 2.12.2010 — B 9 SB 3/09 R — SozR 4–3250 § 69 Nr 12 RdNr 14; § 69 Abs 1 S 5 SGB IX, § 30 Abs 17 BVG iVm §§ 2, 3 Abs 1 Vers­MedV). Bei Ver­stö­ßen dage­gen sind die jewei­li­gen Bestim­mun­gen nicht oder nur mit Maß­ga­ben anzu­wen­den (vgl auch BSG Urteil vom 30.9.2009 — B 9 SB 4/08 R — SozR 4–3250 § 69 Nr 10 RdNr 19; BSG Urteil vom 23.4.2009 — B 9 SB 3/08 R — juris RdNr 30).
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Die Bemes­sung des GdB ist nach der stän­di­gen Recht­spre­chung des BSG grund­sätz­lich tat­rich­ter­li­che Auf­ga­be (vgl Urteil vom 29.11.1956 — 2 RU 121/56 — BSGE 4, 147, 149 f; Urteil vom 9.10.1987 — 9a RVs 5/86 — BSGE 62, 209, 212 f = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 83; Urteil vom 30.9.2009 — B 9 SB 4/08 R — aaO RdNr 23 mwN). Dabei hat ins­be­son­de­re die Fest­stel­lung der nicht nur vor­über­ge­hen­den Gesund­heits­stö­run­gen unter Her­an­zie­hung ärzt­li­chen Fach­wis­sens zu erfol­gen. Dar­über hinaus sind vom Tat­sa­chen­ge­richt die recht­li­chen Vor­ga­ben zu beach­ten. Recht­li­cher Aus­gangs­punkt sind stets § 2 Abs 1, § 69 Abs 1 und 3 SGB IX (s zuletzt BSG Urteil vom 30.9.2009 — B 9 SB 4/08 R — aaO RdNr 16 bis 21 mwN); danach sind ins­be­son­de­re die Aus­wir­kun­gen nicht nur vor­über­ge­hen­der Gesund­heits­stö­run­gen auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft maß­ge­bend.
29
Zur GdB-Bewer­tung bei Dia­be­tes mel­li­tus hat der Senat in meh­re­ren Urtei­len Stel­lung genom­men. Mit Urteil vom 24.4.2008 (- B 9/9a SB 10/06 R — SozR 4–3250 § 69 Nr 9) hat er sich mit den Bewer­tungs­grund­sät­zen der frü­he­ren Nr 26.15 Anhalts­punk­te für die ärzt­li­che Gut­ach­ter­tä­tig­keit im sozia­len Ent­schä­di­gungs­recht und nach dem Schwer­be­hin­der­ten­recht (AHP, Aus­ga­ben 1996 und 2004) befasst. Mit Urteil vom 11.12.2008 (- B 9/9a SB 4/07 R — juris) hat er sich zu der vor­läu­fi­gen Neu­fas­sung des Abschnitts Dia­be­tes mel­li­tus in Nr 26.15 der AHP geäu­ßert. Mit Urteil vom 23.4.2009 (- B 9 SB 3/08 R — juris) hat der erken­nen­de Senat Teil B Nr 15 vom 10.12.2008 als nich­tig ange­se­hen, weil darin, wie in der vor­läu­fi­gen Neu­fas­sung der AHP allein die Ein­stel­lungs­qua­li­tät und — noch — nicht der die Teil­ha­be beein­träch­ti­gen­de The­ra­pie­auf­wand berück­sich­tigt worden war. Schließ­lich hat der Senat mit Urteil vom 2.12.2010 (- B 9 SB 3/09 R — SozR 4–3250 § 69 Nr 12) zu Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV idF vom 14.7.2010 ent­schie­den, dass diese Vor­schrift mit § 69 SGB IX ver­ein­bar und wirk­sam ist und auf sie auch in der Zeit vor ihrem Inkraft­tre­ten zurück­ge­grif­fen werden kann (aaO RdNr 30 ff insbes 38).
30
Im vor­lie­gen­den Fall zu beur­tei­len ist der Zeit­raum ab Antrag­stel­lung durch die Klä­ge­rin im April 2010, sodass (formal) betrach­tet für die Zeit vom 1.4.2010 bis zum 21.7.2010 die am 1.1.2009 in Kraft getre­te­ne Rege­lung in Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV idF vom 10.12.2008 her­an­zu­zie­hen ist. Ent­spre­chend den Urtei­len des erken­nen­den Senats vom 23.4.2009 und 2.12.2010 (jeweils aaO) ist diese Vor­schrift jedoch nicht zur GdB-Bewer­tung geeig­net. Viel­mehr kann auf die Neu­fas­sung der Vor­schrift idF vom 14.7.2010 zurück­ge­grif­fen werden.
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Für die Zeit ab dem 22.7.2010 ist die vom BMAS im Ein­ver­neh­men mit dem Bun­des­mi­nis­te­ri­um der Ver­tei­di­gung und mit Zustim­mung des Bun­des­ra­tes erlas­se­ne Rege­lung in Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV nF unmit­tel­bar anzu­wen­den.
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Die Vor­schrift hat fol­gen­den Inhalt, der sich zwar unmit­tel­bar auf die Fest­stel­lung des GdS bezieht, jedoch für die Bemes­sung des GdB ent­spre­chend gilt (vgl Teil A Nr 2 Anl Vers­MedV):
15.1 Zucker­krank­heit (Dia­be­tes mel­li­tus)
Die an Dia­be­tes erkrank­ten Men­schen, deren The­ra­pie regel­haft keine Hypo­glyk­ämie aus­lö­sen kann und die somit in der Lebens­füh­rung kaum beein­träch­tigt sind, erlei­den auch durch den The­ra­pie­auf­wand keine Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung, die die Fest­stel­lung eines GdS recht­fer­tigt. Der GdS beträgt 0.

Die an Dia­be­tes erkrank­ten Men­schen, deren The­ra­pie eine Hypo­glyk­ämie aus­lö­sen kann und die durch Ein­schnit­te in der Lebens­füh­rung beein­träch­tigt sind, erlei­den durch den The­ra­pie­auf­wand eine signi­fi­kan­te Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung. Der GdS beträgt 20.

Die an Dia­be­tes erkrank­ten Men­schen, deren The­ra­pie eine Hypo­glyk­ämie aus­lö­sen kann, die min­des­tens einmal täg­lich eine doku­men­tier­te Über­prü­fung des Blut­zu­ckers selbst durch­füh­ren müssen und durch wei­te­re Ein­schnit­te in der Lebens­füh­rung beein­träch­tigt sind, erlei­den je nach Ausmaß des The­ra­pie­auf­wands und der Güte der Stoff­wech­sel­ein­stel­lung eine stär­ke­re Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung. Der GdS beträgt 30 bis 40.

Die an Dia­be­tes erkrank­ten Men­schen, die eine Insu­lin­the­ra­pie mit täg­lich min­des­tens vier Insu­lin­in­jek­tio­nen durch­füh­ren, wobei die Insulin­do­sis in Abhän­gig­keit vom aktu­el­len Blut­zu­cker, der fol­gen­den Mahl­zeit und der kör­per­li­chen Belas­tung selb­stän­dig vari­iert werden muss, und durch erheb­li­che Ein­schnit­te gra­vie­rend in der Lebens­füh­rung beein­träch­tigt sind, erlei­den auf Grund dieses The­ra­pie­auf­wands eine aus­ge­präg­te Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung. Die Blut­zu­cker­selbst­mes­sun­gen und Insulin­do­sen (bezie­hungs­wei­se Insu­lin­ga­ben über die Insu­lin­pum­pe) müssen doku­men­tiert sein. Der GdS beträgt 50.

Außer­ge­wöhn­lich schwer regu­lier­ba­re Stoff­wech­sel­la­gen können jeweils höhere GdS-Werte bedin­gen.

33
Hierzu hat der erken­nen­de Senat bereits im Ein­zel­nen aus­ge­führt, dass diese neu­ge­fass­ten Beur­tei­lungs­grund­sät­ze den Vor­ga­ben seiner Recht­spre­chung in den Urtei­len vom 24.4.2008, 11.12.2008 und 23.4.2009 (jeweils aaO) genü­gen und Anhalts­punk­te dafür, dass diese Bestim­mun­gen nicht dem aktu­el­len Stand der medi­zi­ni­schen Wis­sen­schaft ent­spre­chen könn­ten, nicht ersicht­lich sind (Urteil vom 2.12.2010, aaO, RdNr 26).
34
Soweit es die hier strei­ti­ge Fest­stel­lung eines GdB von 50 betrifft, ent­hält Teil B Nr 15.1 Abs 4 Anl Vers­MedV nF seinem Wort­laut nach drei Beur­tei­lungs­kri­te­ri­en: täg­lich min­des­tens vier Insu­lin­in­jek­tio­nen, selbst­stän­di­ge Vari­ie­rung der Insulin­do­sis in Abhän­gig­keit vom aktu­el­len Blut­zu­cker, der fol­gen­den Mahl­zeit und der kör­per­li­chen Belas­tung sowie (durch erheb­li­che Ein­schnit­te) gra­vie­ren­de Beein­träch­ti­gung in der Lebens­füh­rung. Diese Kri­te­ri­en sind nach Auf­fas­sung des Senats nicht jeweils geson­dert für sich genom­men starr anzu­wen­den; viel­mehr sollen sie eine sach­ge­rech­te Beur­tei­lung des Gesamt­zu­stan­des erleich­tern.
35
Dem­entspre­chend kann das Erfor­der­nis von “täg­lich min­des­tens vier Insu­lin­in­jek­tio­nen” ent­ge­gen der Auf­fas­sung des Beklag­ten nicht so ver­stan­den werden, dass aus­nahms­los an allen Tagen eine Anzahl von vier Insu­lin­in­jek­tio­nen durch­ge­führt werden muss. Der Senat hat inso­weit bereits ent­schie­den, dass eine Bewer­tung des GdB, die sich aus­schließ­lich an der Zahl der Insu­lin­in­jek­tio­nen pro Tag ori­en­tiert, nicht über­zeugt. Viel­mehr ist der The­ra­pie­auf­wand neben der Ein­stel­lungs­qua­li­tät zu beur­tei­len (s Urteil vom 24.4.2008, aaO RdNr 40). Dazu hat der Senat aus­ge­führt, dass der GdB rela­tiv nied­rig anzu­set­zen sein wird, wenn mit gerin­gen The­ra­pie­auf­wand eine aus­ge­gli­che­ne Stoff­wech­sel­la­ge erreicht wird, und der GdB bei (in beein­träch­ti­gen­der Weise) wach­sen­dem The­ra­pie­auf­wand und/oder abneh­men­dem The­ra­pie­er­folg (insta­bi­le­rer Stoff­wech­sel­la­ge) höher ein­zu­schät­zen sein wird (aaO). Obwohl die Begrün­dung der Zwei­ten Ver­ord­nung zur Ände­rung der Vers­MedV inso­weit inhalt­lich keine kon­kre­te Aus­sa­ge trifft (BR Drucks 285/10), wollte der Ver­ord­nungs­ge­ber der Recht­spre­chung des BSG erklär­ter­ma­ßen folgen (s BR Drucks 285/10 S 3). Es ist daher davon aus­zu­ge­hen, dass er bei der Neu­fas­sung des Teil B Nr 15.1 AnlVers­MedV zum 22.7.2010 die Zahl von vier Insu­lin­in­jek­tio­nen am Tag nicht als abso­lu­ten Grenz­wert ange­se­hen hat.
36
Des Wei­te­ren ver­langt das Erfor­der­nis einer “selbst­stän­di­gen” Varia­ti­on der Insulin­do­sis kein “stän­di­ges” Anpas­sen der Dosis. Ent­schei­dend ist die Abhän­gig­keit der jewei­li­gen Dosie­rung vom aktu­el­len Blut­zu­cker, der fol­gen­den Mahl­zeit und der kör­per­li­chen Belas­tung. Sie kann dem­nach unter Umstän­den auch mehr­fach gleich blei­ben. In keinem Fall ist inso­weit allein auf die Anzahl von zusätz­li­chen Kor­rek­tur­injek­tio­nen abzu­stel­len.
37
Ent­ge­gen der Ansicht der Klä­ge­rin reicht ein Erfül­len dieser beiden, auf den The­ra­pie­auf­wand bezo­ge­nen Beur­tei­lungs­kri­te­ri­en nicht aus. Viel­mehr muss die betref­fen­de Person durch Aus­wir­kun­gen des Dia­be­tes mel­li­tus auch ins­ge­samt gese­hen erheb­lich in der Lebens­füh­rung beein­träch­tigt sein. Das kommt in Teil B Nr 15.1 Abs 4 Anl Vers­MedV durch die Ver­wen­dung des Wortes “und” deut­lich zum Aus­druck. Es ist auch nicht ersicht­lich, dass der Ver­ord­nungs­ge­ber davon aus­ge­gan­gen ist, dass bei einem ent­spre­chen­den The­ra­pie­auf­wand immer eine gra­vie­ren­de Beein­träch­ti­gung der Lebens­füh­rung vor­liegt. Je nach den per­sön­li­chen Fähig­kei­ten und Umstän­den der betref­fen­den Person kann sich die Anzahl der Insu­lin­in­jek­tio­nen und die stän­di­ge Anpas­sung der Dosis näm­lich unter­schied­lich stark auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft aus­wir­ken. Abge­se­hen davon ist für die Beur­tei­lung des GdB bei Dia­be­tes mel­li­tus auch die jewei­li­ge Stoff­wech­sel­la­ge bedeut­sam (vgl auch Teil B Nr 15.1 Abs 3 Anl Vers­MedV; all­ge­mein dazu BSG Urteil vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 10/06 R — SozR 4–3250 § 69 Nr 9 RdNr 40), die im Rahmen der Prü­fung des drit­ten Merk­mals (gra­vie­ren­de Beein­träch­ti­gung der Lebens­füh­rung) berück­sich­tigt werden kann. Die durch erheb­li­che Ein­schnit­te bewirk­te gra­vie­ren­de Beein­träch­ti­gung in der Lebens­füh­rung kann mithin auf Beson­der­hei­ten der The­ra­pie beru­hen, etwa wenn ein Erkrank­ter auf­grund per­sön­li­cher Defi­zi­te für eine Injek­ti­on erheb­lich mehr Zeit benö­tigt als ein ande­rer, im Umgang mit den Injek­ti­ons­uten­si­li­en ver­sier­ter Mensch. Ein­schnit­te in der Lebens­füh­rung zeigen sich dane­ben auch bei einem unzu­läng­li­chen The­ra­pie­er­folg, also der Stoff­wech­sel­la­ge des erkrank­ten Men­schen.
38
Dieser Aus­le­gung steht — wie das LSG zutref­fend erkannt hat — nicht ent­ge­gen, dass es im letz­ten Teil­satz des Abs 4 heißt: “erlei­den auf Grund dieses The­ra­pie­auf­wan­des eine aus­ge­präg­te Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung”. Diese For­mu­lie­rung mag zwar sprach­lich unklar erschei­nen und in einem gewis­sem Wider­spruch zu den zuvor auf­ge­führ­ten drei Merk­ma­len stehen, sie ändert jedoch nichts an der durch § 69 SGB IX gebo­te­nen umfas­sen­den Betrach­tung des Gesamt­zu­stan­des. Jeden­falls kann aus ihr nicht der Schluss gezo­gen werden, der Ver­ord­nungs­ge­ber habe eine Min­dest­zahl von mit selbst­stän­di­ger Dosis­an­pas­sung ver­bun­de­nen Insu­lin­in­jek­tio­nen für die Fest­stel­lung eines GdB von 50 aus­rei­chen lassen wollen.
39
Diese Bestim­mung des Inhalts des Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV nF gewinnt der Senat allein auf­grund einer Aus­le­gung des Wort­lauts der Vor­schrift vor dem Hin­ter­grund seiner zitier­ten Recht­spre­chung. Unklar­hei­ten, die nur mit Hilfe medi­zi­ni­schen oder ander­wei­ti­gen Sach­ver­stands besei­tigt werden können, sind nicht ersicht­lich. Aus diesem Grund bleibt auch die Rüge der Klä­ge­rin, das LSG hätte den Inhalt der Vor­schrift durch eine Befra­gung des zustän­di­gen Sach­ver­stän­di­gen­bei­rats beim BMAS klären müssen, ohne Erfolg.
40
Auf dieser recht­li­chen Grund­la­ge ver­langt die Bewer­tung des GdB eine am jewei­li­gen Ein­zel­fall ori­en­tier­te Beur­tei­lung, die alle die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft beein­flus­sen­den Umstän­de berück­sich­tigt. Gemes­sen an diesen Kri­te­ri­en ist das Beru­fungs­ur­teil recht­lich nicht zu bean­stan­den. Die Klä­ge­rin hat keinen Anspruch auf Fest­stel­lung eines GdB von 50.
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Nach den Fest­stel­lun­gen des LSG führt die Klä­ge­rin nicht stän­dig eine Insu­lin­the­ra­pie mit täg­lich min­des­tens vier Injek­tio­nen durch. Auch komme es nicht zu einer “stän­di­gen” Anpas­sung der Insu­lin­ga­be. Trotz ihres indi­vi­du­el­len The­ra­pie­auf­wands werde die Klä­ge­rin nicht durch eine schlech­te Ein­stel­lungs­qua­li­tät in ihrer Leis­tungs­fä­hig­keit erheb­lich beein­träch­tigt. Sie erlei­de in ihrer gesam­ten Lebens­füh­rung (Beruf, Sport, Reisen) keine gra­vie­ren­den krank­heits­be­ding­ten Ein­schrän­kun­gen. Zu schwe­ren hypo­glyk­ämischen Ent­glei­sun­gen sei es noch nie gekom­men.
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Soweit die Klä­ge­rin die Fest­stel­lung des LSG zur Häu­fig­keit ihrer täg­li­chen Insu­lin­in­jek­tio­nen mit der Begrün­dung angreift, das LSG habe dabei ihr recht­li­ches Gehör ver­letzt, dringt sie damit nicht durch. Der in §§ 62, 128 Abs 2 SGG kon­kre­ti­sier­te Anspruch auf recht­li­ches Gehör (Art 103 Abs 1 GG) soll ver­hin­dern, dass die Betei­lig­ten durch eine Ent­schei­dung über­rascht werden, die auf Rechts­auf­fas­sun­gen, Tat­sa­chen oder Beweis­ergeb­nis­sen beruht, zu denen sie sich nicht äußern konn­ten (s § 128 Abs 2 SGG; vgl BSG SozR 3–1500 § 62 Nr 12; BVerfGE 84, 188, 190), und sicher­stel­len, dass ihr Vor­brin­gen vom Gericht zur Kennt­nis genom­men und in seine Erwä­gun­gen mit ein­be­zo­gen wird (BVerfGE 22, 267, 274; 96, 205, 216 f). In diesem Rahmen besteht jedoch weder eine all­ge­mei­ne Auf­klä­rungs­pflicht des Gerichts über die Rechts­la­ge, noch die Pflicht, bei der Erör­te­rung der Sach- und Rechts­la­ge im Rahmen der münd­li­chen Ver­hand­lung bereits die end­gül­ti­ge Beweis­wür­di­gung dar­zu­le­gen, denn das Gericht kann und darf das Ergeb­nis der Ent­schei­dung, die in seiner nach­fol­gen­den Bera­tung erst gefun­den werden soll, nicht vor­weg­neh­men. Es gibt keinen all­ge­mei­nen Ver­fah­rens­grund­satz, der das Gericht ver­pflich­ten würde, die Betei­lig­ten vor einer Ent­schei­dung auf eine in Aus­sicht genom­me­ne Beweis­wür­di­gung hin­zu­wei­sen oder die für die rich­ter­li­che Über­zeu­gungs­bil­dung mög­li­cher­wei­se lei­ten­den Gründe zuvor mit den Betei­lig­ten zu erör­tern. Art 103 Abs 1 GG gebie­tet viel­mehr ledig­lich dann einen Hin­weis, wenn das Gericht auf einen Gesichts­punkt abstel­len will, mit dem ein gewis­sen­haf­ter und kun­di­ger Pro­zess­be­tei­lig­ter nicht zu rech­nen brauch­te (vgl BVerfGE 84, 188, 190). Das gilt grund­sätz­lich auch für nicht rechts­kun­dig ver­tre­te­ne Betei­lig­te, wenn es sich nicht um kom­pli­zier­te tat­säch­li­che oder recht­li­che Gege­ben­hei­ten oder Über­le­gun­gen han­delt. Bei der Zahl täg­lich erfor­der­li­cher Injek­tio­nen han­delt es sich nicht um einen kom­pli­zier­ten tat­säch­li­chen Umstand. Jeder kann ihn ohne juris­ti­schen oder ander­wei­ti­gen beson­de­ren Sach­ver­stand erfas­sen.
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Ent­ge­gen der Dar­stel­lung der Klä­ge­rin war eine Sach­la­ge, bei der sie nicht damit zu rech­nen brauch­te, dass das LSG die täg­lich erfor­der­li­che Zahl von Insu­lin­in­jek­tio­nen anspricht und wertet, vor der Ent­schei­dung des LSG nicht gege­ben. Der Klä­ge­rin musste schon auf­grund des Inhalts des Wider­spruchs­be­schei­des sowie des Urteils des SG klar sein, dass es maß­ge­bend auch auf die Häu­fig­keit der täg­li­chen Insu­lin­in­jek­tio­nen ankam und diese nicht als aus­rei­chend ange­se­hen werden könnte. Denn der Beklag­te hat die vom LSG schließ­lich aus­drück­lich genann­te ver­sor­gungs­ärzt­li­che Stel­lung­nah­me von Frau S. vom 23.12.2010 im Wider­spruchs­be­scheid vom 27.12.2010 bereits inhalt­lich wie­der­ge­ge­ben. Zwar hat der Beklag­te in seiner wei­te­ren Begrün­dung den Schwer­punkt auf das Fehlen einer stän­di­gen Anpas­sung der Dosie­rung gelegt. Das SG hat jedoch aus­drück­lich aus­ge­führt, die “Tat­sa­che, dass sich die Klä­ge­rin nach ihren Auf­zeich­nun­gen an eini­gen Tagen nur drei Insu­lin­in­jek­tio­nen ver­ab­reicht” habe, sei darauf zurück­zu­füh­ren, dass sie an diesen Tagen nur zwei Mahl­zei­ten zu sich genom­men habe. Damit seien zwar die Vor­aus­set­zun­gen nach dem Wort­laut der Vor­schrift (“täg­lich min­des­tens vier Insu­lin­in­jek­tio­nen”) nicht erfüllt. Es sei jedoch nicht sach­ge­recht, den GdB nach der Anzahl der Mahl­zei­ten fest­zu­le­gen.
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Dem ist der Beklag­te mit seiner Beru­fung ent­ge­gen­ge­tre­ten und hat — unter Wie­der­ho­lung der Begrün­dung des Wider­spruchs­be­schei­des — vor­ge­tra­gen, dass nach dem vor­lie­gen­den Dia­be­ti­ker-Tage­buch für den Zeit­raum vom 3.6. bis 7.9. (ohne Jah­res­an­ga­be — 96 Tage) die Klä­ge­rin sich “zwei- bis vier­mal täg­lich Bolu­s­in­su­lin und einmal Basis­in­su­lin inji­ziert” habe. Aus diesen Anga­ben ergibt sich nicht durch­gän­gig eine Anzahl von min­des­tens vier Injek­tio­nen am Tag. Der wei­te­re Ver­lauf des Beru­fungs­ver­fah­rens (Schrift­satz des Beklag­ten vom 4.10.2011 mit ver­sor­gungs­ärzt­li­cher Stel­lung­nah­me vom 30.9.2011 und ins­be­son­de­re Erör­te­rungs­ter­min am 21.12.2011) lässt nicht erken­nen, dass der Beklag­te eine täg­li­che Min­dest­zahl von vier Insu­lin­in­jek­tio­nen ein­ge­räumt oder dass sich das LSG inhalt­lich so geäu­ßert hätte.
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Aus diesem Ablauf und Inhalt des Ver­fah­rens konnte die Klä­ge­rin dem­zu­fol­ge ent­neh­men, dass die Häu­fig­keit der täg­li­chen Insu­lin­in­jek­tio­nen maß­ge­bend für die Beur­tei­lung des GdB ist und sie nach dem bis­he­ri­gen Stand des Ver­fah­rens eine Min­dest­zahl von vier Injek­tio­nen täg­lich nicht erreicht. Jeden­falls musste die Klä­ge­rin mit einer sol­chen Beweis­wür­di­gung des LSG rech­nen. Dem­entspre­chend konnte es für sie objek­tiv keine Über­ra­schung sein, dass das LSG im Beru­fungs­ur­teil diesen Umstand auf­greift und recht­lich wür­digt.
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Des Wei­te­ren ist unbe­acht­lich, dass die Vor­in­stanz irr­tüm­lich eine “stän­di­ge” (anstel­le einer “selbst­stän­di­gen”) Dosis­an­pas­sung ver­langt, denn jeden­falls fehlt es nach dem beru­fungs­ge­richt­li­chen Tat­sa­chen­fest­stel­lun­gen an einer durch erheb­li­che Ein­schnit­te gra­vie­rend beein­träch­tig­ten Lebens­füh­rung der Klä­ge­rin. Detail­lier­te Tat­sa­chen­fest­stel­lun­gen sind inso­weit nicht erfor­der­lich gewe­sen, da das LSG die aus­führ­li­chen Anga­ben der Klä­ge­rin zugrun­de gelegt hat. Soweit die Klä­ge­rin rügt, das LSG habe seine Fest­stel­lung, sie — die Klä­ge­rin — habe über Jahre hinweg beruf­lich und privat ohne gra­vie­ren­de Ein­schrän­kun­gen gelebt, getrof­fen, ohne über die für diese Beur­tei­lung erfor­der­li­che sozio­lo­gi­sche und sozi­al­me­di­zi­ni­sche Sach­kun­de zu ver­fü­gen, greift diese Rüge nicht durch. Denn für die Beur­tei­lung einer im Wesent­li­chen “nor­ma­len Lebens­füh­rung” bedarf es keiner beson­de­ren Sach­kun­de. Die ent­spre­chen­de Beur­tei­lung kann der Tat­rich­ter ohne sach­ver­stän­di­ge Unter­stüt­zung selbst vor­neh­men. Über­dies hat sich das LSG inso­weit ersicht­lich neben den eige­nen Anga­ben der Klä­ge­rin auch auf die sozi­al­me­di­zi­ni­sche Beur­tei­lung der Ver­sor­gungs­ärz­tin Dr. W. in deren in das Ver­fah­ren ein­be­zo­ge­nen Stel­lung­nah­me vom 13.2.2012 gestützt. Dabei sind auch die von der Klä­ge­rin geschil­der­ten ein­schrän­ken­den Umstän­de (zB Schwie­rig­kei­ten bei Reisen in die Tropen, Unmög­lich­keit der Aus­übung des Tauch­sports) berück­sich­tigt worden.
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Auf­grund der tat­säch­li­chen Fest­stel­lun­gen des LSG ist es zudem — auch unter Berück­sich­ti­gung des Revi­si­ons­vor­brin­gens — aus­zu­schlie­ßen, dass der GdB der Klä­ge­rin gemäß Teil B Nr 15.1 Abs 5 Anl Vers­MedV einen Wert von 50 erreicht. Nach dieser Vor­schrift können außer­ge­wöhn­lich schwer regu­lier­ba­re Stoff­wech­sel­la­gen jeweils höhere GdB-Werte bedin­gen. Aus­ge­hend von einem GdB von 40 wäre danach eine Erhö­hung auf 50 theo­re­tisch mög­lich. Die Vor­aus­set­zun­gen der Vor­schrift sind jedoch zwei­fels­frei nicht erfüllt, da ent­spre­chen­de Stoff­wech­sel­la­gen bei der Klä­ge­rin nicht fest­ge­stellt worden sind.
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Schließ­lich geht die von der Klä­ge­rin in diesem Zusam­men­hang ver­tre­te­ne Ansicht fehl, sie dürfe wegen ihres kon­se­quen­ten The­ra­pie­ver­hal­tens und ihrer ver­nünf­ti­gen Lebens­füh­rung in Bezug auf ihre Erkran­kung bei der Fest­set­zung des GdB nicht “schlech­ter” behan­delt werden als ein behin­der­ter Mensch, der bei glei­cher Krank­heits­la­ge wegen einer nicht so kon­se­quent durch­ge­führ­ten The­ra­pie eine schlech­te­re Stoff­wech­sel­la­ge auf­wei­se und dem des­we­gen ein höhe­rer GdB als ihr zuer­kannt werde. Die Klä­ge­rin über­sieht, dass die Beur­tei­lung des GdB im Schwer­be­hin­der­ten­recht aus­schließ­lich final, also ori­en­tiert an dem tat­säch­lich bestehen­den Zustand des behin­der­ten Men­schen zu erfol­gen hat, ohne dass es auf die Ver­ur­sa­chung der dau­er­haf­ten Gesund­heits­stö­rung ankommt (vgl Opper­mann in Knick­rehm, Gesam­tes Sozia­les Ent­schä­di­gungs­recht, § 69 SGB IX RdNr 23 mwN). Das gilt sowohl hin­sicht­lich unbe­ein­fluss­ba­rer Kau­sal­zu­sam­men­hän­ge (s dazu BSG Urteil vom 30.9.2009 — B 9 SB 4/08 R — SozR 4–3250 § 69 Nr 10 RdNr 20 mwN) als auch für Vor­gän­ge, auf die der Betrof­fe­ne Ein­fluss nehmen kann oder die er sogar selbst zu ver­ant­wor­ten hat. Inso­fern kommt es nicht darauf an, welche Folgen eine Ver­nach­läs­si­gung der Dia­be­tes-The­ra­pie bei der Klä­ge­rin haben würde.
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Die Kos­ten­ent­schei­dung beruht auf § 193 SGG.

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