Leit­sät­ze

Vor­aus­set­zung für “Noten­schutz” bei Behin­der­ten ist, dass die Kau­sa­li­tät zwi­schen Ver­schlech­te­rung von Noten und der Behin­de­rung kon­kret fest­ge­stellt werden kann. Es genügt hier­für nicht, dass die schu­li­schen Leis­tun­gen all­ge­mein auf­grund der Behin­de­rung schlech­ter sind, als sie ohne Behin­de­rung wären.

Es recht­fer­tigt keine Ver­bes­se­rung von Noten oder einer Durch­schnitts­no­te im Abitur, wenn schu­li­sche Leis­tun­gen all­ge­mein auf­grund der Behin­de­rung schlech­ter sind, als sie ohne Behin­de­rung wären.

Tenor

Der Antrag wird abge­lehnt.

Die Kosten des Ver­fah­rens trägt die Antrag­stel­le­rin.

Der Streit­wert wird auf 5.000,00 EUR fest­ge­setzt.

Gründe

Die … … Antrag­stel­le­rin bestand im Früh­jahr 2012 das Abitur am R.-Gymnasium … mit einem Noten­durch­schnitt von 1,6. Sie leidet an Dia­be­tes Mel­li­tus Typ I, A. und S. Seit 27.12.2004 hat sie einen Grad der Behin­de­rung (GdB) von 50.

Die Antrag­stel­le­rin bean­tragt, dem Antrags­geg­ner durch Erlass einer einst­wei­li­gen Anord­nung auf­zu­ge­ben, ihr ein Schul­gut­ach­ten zum Nach­teils­aus­gleich ihrer Behin­de­rung aus­zu­stel­len. Sie beab­sich­tigt, dieses Schul­gut­ach­ten zusam­men mit ihrer Bewer­bung um einen Stu­di­en­platz in Human­me­di­zin vor­zu­le­gen, und will damit ihre Chan­cen für die Zutei­lung eines Stu­di­en­plat­zes ver­bes­sern. Dieser Antrag hat keinen Erfolg.

Die Antrag­stel­le­rin begehrt mit ihrem Antrag eine Rege­lung, die die Haupt­sa­che­ent­schei­dung vor­weg­nimmt. Wenn sie näm­lich das bean­trag­te Gut­ach­ten erhält und mit der Bewer­bung um einen Stu­di­en­platz vor­legt, ist dieser Vor­gang nicht mehr rück­gän­gig zu machen. In sol­chen Fällen gilt grund­sätz­lich das Verbot der Vor­weg­nah­me der Haupt­sa­che. Es kann zur Gewäh­rung effek­ti­ven Rechts­schut­zes nur durch­bro­chen werden, wenn die zu erwar­ten­den Nach­tei­le unzu­mut­bar und im Haupt­sa­che­ver­fah­ren nicht mehr zu besei­ti­gen wären und wenn ein hoher Grad an Wahr­schein­lich­keit für einen Erfolg auch in der Haupt­sa­che spricht (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 21.04.2004 — 6 S 17/04; BayVGH, Beschl. v. 27.02.2012 — 3 CE 11.2579; OVG Lüne­burg, Beschl. v. 20.03.2012 — 8 ME 204/11 -, jew. juris; Kopp/Schenke, VwGO, 6. Aufl. [2009], § 123 RdNr. 14).

Die Antrag­stel­le­rin hat zwar einen Anord­nungs­grund glaub­haft gemacht. Die Frist zur Vor­la­ge der Bewer­bung und eines von der Schule zu erstel­len­den Gut­ach­tens läuft am 15.07.2012 ab. Es bestehen auch für die Antrag­stel­le­rin schwe­re und unzu­mut­ba­re Nach­tei­le, wenn sie sich jetzt ohne ein ihr etwa zuste­hen­des Gut­ach­ten um einen Stu­di­en­platz bewer­ben müsste. Diese sofort ein­tre­ten­den Nach­tei­le könn­ten auch nicht mehr besei­tigt werden, wenn sie später im Haupt­sa­che­ver­fah­ren Erfolg hätte.

Die Antrag­stel­le­rin hat aber keinen Anord­nungs­an­spruch glaub­haft gemacht. Es besteht kein hoher Grad an Wahr­schein­lich­keit für einen Erfolg ihres Begeh­rens in der Haupt­sa­che.

Die Antrag­stel­le­rin kann sich nicht mit Erfolg auf die Ver­wal­tungs­vor­schrift für “Kinder und Jugend­li­che mit beson­de­rem För­der­be­darf und Behin­de­run­gen” vom 08.03.1999 beru­fen. Nach deren Ziffer 1 “All­ge­mei­ne Ziele und Grund­sät­ze” erfasst sie aller­dings Schü­le­rin­nen und Schü­ler mit Behin­de­run­gen, auch bei chro­ni­schen Erkran­kun­gen. Bei Ziffer 2.3 “Leis­tungs­mes­sung und Leis­tungs­be­ur­tei­lung, Nach­teils­aus­gleich” wird unter Ziffer 2.3.1 “All­ge­mei­ne Grund­sät­ze” aber aus­ge­führt, der Nach­teils­aus­gleich für behin­der­te Schü­ler bezie­he sich auf Hilfen, mit denen die Schü­ler in die Lage ver­setzt würden, dem Anfor­de­rungs­pro­fil zu ent­spre­chen. Der Nach­teils­aus­gleich lasse aber das Anfor­de­rungs­pro­fil unbe­rührt; das gefor­der­te Niveau könne aber auch Schü­lern mit Behin­de­run­gen nicht erlas­sen werden. Soweit sich die Antrag­stel­le­rin auf Ziffer 2.3.2 “Beson­der­hei­ten bei Schü­lern mit Schwie­rig­kei­ten im Lesen oder Recht­schrei­ben” beruft, ist nicht ersicht­lich, dass diese Ziffer für sie ein­schlä­gig ist. Denn sie bezieht sich nur auf die dort genann­ten beson­de­ren Schwie­rig­kei­ten. Im Übri­gen wird auch dort aus­ge­führt, in den Jahr­gangs­stu­fen des Gym­na­si­ums seien Aus­nah­men von der Ver­bind­lich­keit des all­ge­mei­nen Anfor­de­rungs­pro­fils, ins­be­son­de­re eine zurück­hal­ten­de Gewich­tung bei der Leis­tungs­mes­sung, nicht mehr mög­lich. Gerade dies begehrt die Antrag­stel­le­rin aber.

Ein Anspruch der Antrag­stel­le­rin lässt sich nicht aus § 126 Abs. 1 SGB IX her­lei­ten. Danach werden die Vor­schrif­ten über Hilfen für behin­der­te Men­schen zum Aus­gleich behin­de­rungs­be­ding­ter Nach­tei­le oder Mehr­auf­wen­dun­gen (Nach­teils­aus­gleich) so gestal­tet, dass sie unab­hän­gig von der Ursa­che der Behin­de­rung der Art oder Schwe­re der Behin­de­rung Rech­nung tragen. Denn diese Vor­schrift hat im Wesent­li­chen nur Pro­gramm­cha­rak­ter (vgl. Neu­man­n/­Pah­len/­Ma­jer­ski-Pahlen, SGB IX, 11. Aufl. [2005], § 126 RdNr. 2). Daraus können grund­sätz­lich nicht unmit­tel­bar Ansprü­che abge­lei­tet werden. Es bedarf viel­mehr aus­drück­li­cher Rege­lun­gen.

Zum Aus­gleich von Behin­de­run­gen im schu­li­schen Bereich werden in Bezug auf Noten zwei Model­le dis­ku­tiert. Es han­delt sich zum einen um “Noten­schutz”, mit dem erreicht werden soll, dass das bisher erreich­te Noten­ni­veau erhal­ten bleibt, wenn es sich aktu­ell auf­grund einer Behin­de­rung ver­schlech­ter­te, oder dass ein­zel­ne Noten nicht gewer­tet werden. Zum ande­ren han­delt es sich um eine Ver­bes­se­rung der Noten, denen — auf­grund der Behin­de­rung — keine ent­spre­chen­de schu­li­sche oder Prü­fungs­leis­tung zugrun­de­liegt.

Auf “Noten­schutz” kann sich die Antrag­stel­le­rin nicht mit Erfolg beru­fen. Denn dabei wird vor­aus­ge­setzt, dass das Noten­bild vor Ein­tritt der Behin­de­rung mit dem sich danach erge­ben­den Noten­bild ver­gli­chen wird (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 23.01.1980 — XI 2202/79 -). Hier­für müssen Nach­wei­se vor­lie­gen (so auch aus­drück­lich das Merk­blatt der Stif­tung Hoch­schul­start, das die Antrag­stel­le­rin vor­ge­legt hat). Vor­lie­gend hat die Antrag­stel­le­rin aber nicht einmal gel­tend gemacht, dass eine solche fass­ba­re Noten­ver­schlech­te­rung auf­grund der Behin­de­rung statt­fand. Sie beruft sich viel­mehr darauf, die Behin­de­rung und ihre Aus­wir­kun­gen hätten wäh­rend der ganzen Gym­na­si­al­zeit bestan­den. Die Beru­fung auf “Noten­schutz” hätte dar­über hinaus vor­aus­ge­setzt, dass die Antrag­stel­le­rin die kon­kre­te Ent­wick­lung der Noten auf­zeigt und nach­weist. Daran fehlt es eben­falls.

Auf eine (ein­heit­li­che) Ver­bes­se­rung der Durch­schnitts­no­te von 1,6 hat die Antrag­stel­le­rin keinen Anspruch. Sie macht selbst nicht gel­tend, die ihr erteil­ten Noten und die daraus errech­ne­te Durch­schnitts­no­te ent­sprä­chen nicht den gezeig­ten Leis­tun­gen. Sie beruft sich viel­mehr darauf, ihre Leis­tun­gen wären ohne die vor­han­de­nen Behin­de­run­gen besser. Ein Nach­teils­aus­gleich in Form der von der Antrag­stel­le­rin begehr­ten Noten­ver­bes­se­rung ist aber unzu­läs­sig, weil dies ein Abwei­chen vom Leis­tungs­grund­satz bedeu­te­te. Auch das Vor­han­den­sein einer Behin­de­rung lässt es nicht zu, für den Behin­der­ten den Bewer­tungs­maß­stab zu ver­än­dern (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 23.01.1980, a.a.O.; OVG Lüne­burg, Beschl. v. 10.07.2008, NVwZ-RR 2009, 68). Auch ein Behin­der­ter muss die jewei­li­gen Anfor­de­run­gen erfül­len (vgl. VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 09.11.2004 — 9 S 2258/04 -). Es ist nicht zuläs­sig, Beur­tei­lun­gen fik­ti­ve Leis­tun­gen zugrun­de­zu­le­gen (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 23.01.1980, a.a.O.). Sonst läge ein Ver­stoß gegen den Grund­satz der Chan­cen­gleich­heit vor. Ein Nach­teils­aus­gleich muss viel­mehr über andere Maß­nah­men erfol­gen, z. B. schu­li­sche För­de­rung oder Berück­sich­ti­gung der Behin­de­rung bei der prak­ti­schen Durch­füh­rung von Prü­fun­gen (vgl. OVG Berlin-Bran­den­burg, Beschl. v. 16.06.2009 — 3 M 16.09 -, juris).

Auch Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, nach dem nie­mand wegen seiner Behin­de­rung benach­tei­ligt werden darf, ver­leiht der Antrag­stel­le­rin nicht den begehr­ten Anspruch. Denn er stellt nur ein Abwehr­recht dar (vgl. OVG Lüne­burg, Beschl. v. 20.07.2008, a.a.O.).

Die Kos­ten­ent­schei­dung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 1 VwGO.

Die Fest­set­zung des Streit­werts beruht auf §§ 63 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG. Dabei wurde der volle Regel­streit­wert zugrun­de­ge­legt, weil die Antrag­stel­le­rin die Vor­weg­nah­me der Haupt­sa­che begehrt.

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