Leit­sät­ze

Die sich aus dem Dia­be­tes mel­li­tus erge­ben­de Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung ist grund­sätz­lich nach den Bewer­tungs­vor­schlä­gen der “Anhalts­punk­te für die ärzt­li­che Gut­ach­ter­tä­tig­keit im sozia­len Ent­schä­di­gungs­recht und nach dem Schwer­be­hin­der­ten­ge­setz” (hier: Aus­ga­be 1996) ein­zu­schät­zen. Maß­geb­lich für den Grad der Behin­de­rung ist ins­be­son­de­re die erreich­te Stoff­wech­sel­la­ge und der dabei erfol­gen­de The­ra­pie­auf­wand.

 

Tat­be­stand

1
Strei­tig ist, ob der Kläger einen Anspruch auf Fest­stel­lung eines Grades der Behin­de­rung (GdB) von wenigs­tens 50 hat, also schwer­be­hin­dert ist.
2
Auf den Erst­an­trag des Klä­gers vom 22.3.2002 stell­te der Beklag­te zunächst mit Bescheid vom 5.8.2002 einen GdB von 30 und auf den Wider­spruch des Klä­gers mit (Teilabhilfe-)Bescheid vom 30.9.2002 einen GdB von 40 ab 22.3.2002 fest. Im Übri­gen war der Wider­spruch erfolg­los (Wider­spruchs­be­scheid des Beklag­ten vom 28.10.2002). Als Funk­ti­ons­be­ein­träch­ti­gun­gen wurden im Bescheid vom 30.9.2002 “Dia­be­tes mel­li­tus (mit Diät und Insu­lin ein­stell­bar), Funk­ti­ons­be­hin­de­rung des rech­ten Schul­ter­ge­len­kes, Funk­ti­ons­be­hin­de­rung der Wir­bel­säu­le, Funk­ti­ons­be­hin­de­rung beider Hüft­ge­len­ke” genannt. Dabei waren für den Dia­be­tes mel­li­tus ein Einzel-GdB von 40, für die Funk­ti­ons­be­hin­de­run­gen des rech­ten Schul­ter­ge­len­kes, der Wir­bel­säu­le und beider Hüft­ge­len­ke jeweils ein Einzel-GdB von 10 zugrun­de gelegt worden.
3
Am 10.7.2003 bean­trag­te der Kläger die Fest­stel­lung eines höhe­ren GdB. Er machte ua gel­tend: Er müsse wegen seines Dia­be­tes mel­li­tus sechs- bis acht­mal täg­lich Insu­lin sprit­zen. Nach dem Urteil des Sozi­al­ge­richts (SG) Düs­sel­dorf vom 5.3.2003 — S 31 SB 388/01 — stehe ihm wegen dieses The­ra­pie­auf­wan­des ein GdB von min­des­tens 50 zu. Mit Bescheid vom 20.2.2004 lehnte der Beklag­te diesen Antrag ab, weil es trotz der neu hin­zu­ge­kom­me­nen Funk­ti­ons­be­ein­träch­ti­gung Blut­hoch­druck (Einzel-GdB 10) bei dem bisher fest­ge­stell­ten GdB von 40 ver­blei­be. Den Wider­spruch wies der Beklag­te mit Wider­spruchs­be­scheid vom 15.4.2004 zurück.
4
Das SG Karls­ru­he hat die auf Fest­stel­lung eines GdB von min­des­tens 50 gerich­te­te Klage durch Gerichts­be­scheid vom 4.5.2005 abge­wie­sen. Die beim Kläger vor­lie­gen­den Funk­ti­ons­be­ein­träch­ti­gun­gen beding­ten keinen höhe­ren GdB als 40. Es liege ein Typ II-Dia­be­tes mit inten­si­vier­ter Insu­lin­the­ra­pie bei guter bis befrie­di­gen­der Ein­stel­lung ohne Hin­weis auf Stoff­wech­sel­in­sta­bi­li­tä­ten oder schwe­re Ein­stell­bar­keit und ohne Anhalt für Kom­pli­ka­tio­nen im Sinne eines dia­be­ti­schen Spät­syn­droms vor. Für die Bewer­tung des GdB beim Dia­be­tes mel­li­tus seien nach wie vor ent­ge­gen den anders­lau­ten­den Aus­füh­run­gen des SG Düs­sel­dorf die “Anhalts­punk­te für die ärzt­li­che Gut­ach­ter­tä­tig­keit im sozia­len Ent­schä­di­gungs­recht und nach dem Schwer­be­hin­der­ten­recht”, Aus­ga­be 2004 (AHP 2004), maß­ge­bend. Sie ent­sprä­chen wei­ter­hin dem herr­schen­den wis­sen­schaft­li­chen Kennt­nis­stand. Die AHP 2004 stell­ten wie auch bereits die AHP 1996 bei der GdB-Bewer­tung zu Recht nicht allein auf den The­ra­pie­auf­wand, son­dern wei­ter­hin im Wesent­li­chen auf Typ und Ein­stell­bar­keit der Erkran­kung sowie auf Art und Ausmaß von Kom­pli­ka­tio­nen ab.
5
Mit Urteil vom 16.8.2006 hat das Lan­des­so­zi­al­ge­richt (LSG) Baden-Würt­tem­berg die Beru­fung des Klä­gers zurück­ge­wie­sen und im Wesent­li­chen aus­ge­führt: Der ange­foch­te­ne Gerichts­be­scheid sei nicht zu bean­stan­den. Das SG habe die ein­schlä­gi­gen Rechts­vor­schrif­ten und auch die AHP 2004 zutref­fend ange­wandt. Das Gut­ach­ten von Prof. Dr. S. vom 27.5.2005 sei nicht geeig­net, einen höhe­ren GdB als 40 zu begrün­den. Die Dia­gno­se einer rele­van­ten Poly­neu­ro­pa­thie sei nicht durch Befun­de belegt. Bei unauf­fäl­li­ger Sen­si­bi­li­tät, unauf­fäl­li­ger grober Kraft und unauf­fäl­li­ger Koor­di­na­ti­on spre­che ledig­lich ein redu­zier­tes Vibra­ti­ons­emp­fin­den an den Groß­ze­hen beid­seits und eine gestör­te Kalt-Warm-Dis­kri­mi­nie­rung an beiden Füßen für das Vor­lie­gen einer Poly­neu­ro­pa­thie. Es könne inso­weit nicht von einer GdB-rele­van­ten Gesund­heits­stö­rung aus­ge­gan­gen werden. Sie sei in ihren Aus­wir­kun­gen kei­nes­falls zB mit einem Ver­lust der Zehen II‑V oder I‑III an einem Fuß (GdB 10) ver­gleich­bar.
Es sei nicht den Emp­feh­lun­gen der Deut­schen Dia­be­tes Gesell­schaft (DDG), son­dern den Vor­ga­ben der AHP 2004 zu folgen. Der ärzt­li­che Sach­ver­stän­di­gen­bei­rat beim Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Gesund­heit und Sozia­le Siche­rung (BMGS) habe auch bei der Neu­auf­la­ge der AHP 2004 diese Grund­la­ge nach aus­führ­li­cher inhalt­li­cher Aus­ein­an­der­set­zung mit den Ein­tei­lungs- und Bewer­tungs­vor­schlä­gen der DDG nicht ver­las­sen; dies werde in dem Schrei­ben des BMGS vom 24.5.2004 noch­mals aus­drück­lich bestä­tigt. Die Ein­tei­lung in den AHP sei sach­ge­recht und ent­spre­che auch heute dem aktu­el­len Stand der wis­sen­schaft­li­chen Medi­zin. Die Ein­schät­zung von Prof. Dr. S., dass die AHP 2004 den betrof­fe­nen Typ-II-Dia­be­ti­kern in der Mehr­heit nicht gerecht würden und der Bewer­tungs­vor­schlag der DDG die Pro­ble­me der Dia­be­ti­ker im Alltag deut­lich rea­lis­ti­scher dar­stel­le sowie der Pro­ble­ma­tik der Dia­be­ti­ker­ver­sor­gung deut­lich besser gerecht werde, ver­mö­ge daran nichts zu ändern. Prof. Dr. S zeige nicht auf, wes­halb nach medi­zi­nisch-wis­sen­schaft­li­chem Erkennt­nis­stand eine Dif­fe­ren­zie­rung zwi­schen Typ-I- und Typ-II-Dia­be­ti­kern nicht wei­ter­hin sinn­voll sein solle. Dr. L. habe in seinem im Auf­trag des SG erstell­ten Gut­ach­ten aus­führ­lich die Unter­schie­de der Typen des Dia­be­tes mel­li­tus her­aus­ge­ar­bei­tet und dar­ge­stellt, dass die Bewer­tung des Typ-I- und Typ-II-Dia­be­tes unter­schied­lich sein müsse, wie dies ja auch in den AHP 2004 erfolgt sei. Das Abstel­len auf den Typ der Erkran­kung, Ein­stell­bar­keit sowie Art und Ausmaß von Kom­pli­ka­tio­nen sei — wie in den AHP — wei­ter­hin sach­ge­recht. Der The­ra­pie­auf­wand werde in den Kri­te­ri­en der AHP nicht völlig außer Betracht gelas­sen.
6
Mit seiner vom LSG zuge­las­se­nen Revi­si­on rügt der Kläger zunächst einen Ver­stoß gegen das Rechts­staats­prin­zip und den Grund­satz der demo­kra­ti­schen Legi­ti­ma­ti­on. Der Vor­be­halt des Geset­zes ver­lan­ge, dass der Gesetz­ge­ber in grund­rechts­re­le­van­ten Berei­chen alle wesent­li­chen Ent­schei­dun­gen selbst treffe. Bei der Fest­stel­lung des GdB auf der Grund­la­ge der AHP 2004 han­de­le es sich um einen Grund­rechts­ein­griff und nicht um die Gewäh­rung staat­li­cher Leis­tun­gen. Die AHP erfüll­ten die Vor­aus­set­zun­gen des Vor­be­halts des Geset­zes nicht; zudem fehle es an einer demo­kra­ti­schen Legi­ti­ma­ti­on.
7
Weiter macht der Kläger ua gel­tend: Das LSG habe § 69 Abs 1 Satz 4, Abs 3 SGB IX iVm § 48 SGB X rechts­wid­rig aus­ge­legt und ange­wen­det. Beim Dia­be­tes mel­li­tus sei eine Aus­le­gung des Begriffs “Aus­wir­kun­gen auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft” gebo­ten, die auch den The­ra­pie­auf­wand berück­sich­ti­ge. Eine Nor­maus­le­gung bzw ‑anwen­dung, die begüns­ti­gen würde, dass ein (eigen­ver­schul­det) schlecht ein­ge­stell­ter Dia­be­ti­ker wegen Hypo­glyk­ämien bzw Organ­kom­pli­ka­tio­nen besser gestellt wäre als ein mit hohem eige­nen Auf­wand gut ein­ge­stell­ter Dia­be­ti­ker, der in ver­gleich­ba­rer Weise wegen des The­ra­pie­auf­wands nicht am gesell­schaft­li­chen Leben teil­neh­men könne, wider­sprä­che Sinn und Zweck der gesetz­li­chen Rege­lung. Die Eigen­the­ra­pie beim Dia­be­tes mel­li­tus sei dem Krank­heits­bild imma­nent. Wirke der Pati­ent nicht hin­rei­chend mit, komme es zu gra­vie­ren­den gesund­heit­li­chen Beein­träch­ti­gun­gen. Eine Unter­schei­dung zwi­schen den Typen I und II sei bei der GdB-Bewer­tung eines insu­lin­pflich­ti­gen Dia­be­tes mel­li­tus nicht ange­bracht. Ebenso wenig sei die Ein­stell­bar­keit ein pas­sen­des Kri­te­ri­um.
8
Der Kläger bean­tragt,
das Urteil des LSG Baden-Würt­tem­berg vom 16.8.2006, den Gerichts­be­scheid des SG Karls­ru­he vom 4.5.2005 sowie den Bescheid des Beklag­ten vom 20.2.2004 in der Gestalt des Wider­spruchs­be­schei­des vom 15.4.2004 auf­zu­he­ben und den Beklag­ten zu ver­pflich­ten, den Grad der Behin­de­rung des Klä­gers unter Auf­he­bung des Beschei­des vom 30.9.2002 in der Gestalt des Wider­spruchs­be­schei­des vom 28.10.2002 für die Zeit ab Juli 2003 auf min­des­tens 50 fest­zu­set­zen.
9
Der Beklag­te bean­tragt,
die Revi­si­on des Klä­gers zurück­zu­wei­sen.
10
Er ist der Auf­fas­sung, die AHP könn­ten weder durch den GdB-Kata­log der DDG noch durch das Urteil des SG Düs­sel­dorf vom 5.3.2003 — S 31 SB 388/01 — oder das Gut­ach­ten des Prof. Dr. S ent­kräf­tet werden. Maß­stab für die GdB-Beur­tei­lung beim Dia­be­tes mel­li­tus sei die Ein­stell­bar­keit und nicht der The­ra­pie­auf­wand. Im Übri­gen sei immer die indi­vi­du­el­le Situa­ti­on zu berück­sich­ti­gen.
11
Der Senat hat Beweis erho­ben durch Ein­ho­lung von schrift­li­chen Stel­lung­nah­men des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für Arbeit und Sozia­les (BMAS) und der DDG sowie von Gut­ach­ten der Sach­ver­stän­di­gen Prof. Dr. H, Dr. F., Dr. Lo. und Dr. R. ; ergän­zend hat der Senat die Sach­ver­stän­di­gen in der münd­li­chen Ver­hand­lung ange­hört.

Ent­schei­dungs­grün­de

12
Die zuläs­si­ge Revi­si­on ist im Sinne der Auf­he­bung des Beru­fungs­ur­teils und Zurück­ver­wei­sung der Sache an das LSG begrün­det.
13
Der Antrag des Klä­gers ist dahin aus­zu­le­gen, dass dieser eine Neu­fest­stel­lung seines GdB nicht nur wegen einer Ände­rung der Ver­hält­nis­se (§ 48 Abs 1 Satz 1 und Satz 2 Nr 1 SGB X) , son­dern in erster Linie wegen einer von vorn­her­ein bestehen­den Rechts­wid­rig­keit des bis­lang maß­ge­ben­den Ver­wal­tungs­akts mit Wir­kung für die Zukunft (§ 44 Abs 2 Satz 1 SGB X) begehrt. Der Senat vermag aller­dings auf­grund der vom LSG fest­ge­stell­ten Tat­sa­chen nicht zu ent­schei­den, ob dem Kläger ein Rück­nah­me­an­spruch nach § 44 Abs 2 Satz 1 SGB X zusteht. Es fehlen schon hin­rei­chen­de Tat­sa­chen­fest­stel­lun­gen zum Gesund­heits­zu­stand des Klä­gers im September/Oktober 2002.
14
1. Ent­ge­gen der Auf­fas­sung des LSG ist Gegen­stand des vor­lie­gen­den Rechts­streits nicht nur die Frage, ob sich seit der bestands­kräf­ti­gen Fest­stel­lung des GdB mit 40 (Bescheid vom 30.9.2002 in der Gestalt des Wider­spruchs­be­schei­des vom 28.10.2002) die tat­säch­li­chen oder recht­li­chen Ver­hält­nis­se im Sinne des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X wesent­lich geän­dert haben, son­dern vor­ran­gig die Frage, ob diese bestands­kräf­ti­ge Fest­stel­lung des GdB zu nied­rig, damit als nicht begüns­ti­gen­der Ver­wal­tungs­akt von vorn­her­ein rechts­wid­rig war und des­halb nach § 44 Abs 2 Satz 1 SGB X mit Wir­kung für die Zukunft zurück­zu­neh­men ist. Dies ergibt die Aus­le­gung des Begeh­rens des Klä­gers (§ 123 SGG) , die auch dem Revi­si­ons­ge­richt obliegt.
15
Bereits mit seinem Antrag beim Ver­sor­gungs­amt am 10.7.2003 begehr­te der Kläger unter Hin­weis auf das Urteil des SG Düs­sel­dorf — S 31 SB 388/01 — in erster Linie eine Über­prü­fung des den GdB mit 40 fest­stel­len­den Teil­ab­hil­fe­be­schei­des vom 30.9.2002 in der Gestalt des Wider­spruchs­be­schei­des vom 28.10.2002, der im Zeit­punkt der Antrag­stel­lung im Sinne des § 77 SGG bin­dend gewor­den und damit bestands­kräf­tig war. Unter Bezug­nah­me auf die Ent­schei­dungs­grün­de des Urteils des SG Düs­sel­dorf, das bei der Bewer­tung des GdB für einen Dia­be­tes mel­li­tus dem Kata­log der DDG den Vorzug vor den AHP 1996 gege­ben hatte, begrün­de­te der Kläger seinen Antrag näm­lich sinn­ge­mäß damit, dass die Nr 26.15 AHP 1996 nicht mehr mit dem Stand der medi­zi­ni­schen Wis­sen­schaft über­ein­stim­me und daher für die GdB-Beur­tei­lung des Dia­be­tes mel­li­tus nicht mehr anwend­bar sei. Da er sich sechs- bis acht­mal täg­lich Insu­lin sprit­zen müsse, stünde ihm wegen dieses The­ra­pie­auf­wan­des nach dem Kata­log der DDG ein GdB von min­des­tens 50 zu.
16
Der Beklag­te (dh das Ver­sor­gungs­amt) konnte diesen Antrag nach seinem objek­ti­ven Erklä­rungs­wert und der recht ver­stan­de­nen Inter­es­sen­la­ge des Klä­gers (§ 133 BGB) nur so ver­ste­hen, dass dieser unter Berück­sich­ti­gung des Meist­be­güns­ti­gungs­prin­zips alles begehrt, was ihm auf Grund des von ihm geschil­der­ten Sach­ver­halts recht­lich zusteht, er also in erster Linie eine Über­prü­fung des bestands­kräf­ti­gen Ver­wal­tungs­akts jeden­falls mit Wir­kung für die Zukunft (§ 44 Abs 2 Satz 1 SGB X) errei­chen will (zur Aus­le­gung eines Antrags als öffent­lich-recht­li­che Wil­lens­er­klä­rung vgl BSG, Urteil vom 4.4.2006 — B 1 KR 5/05 R, BSGE 96, 161 = SozR 4–2500 § 13 Nr 8, jeweils RdNr 14 mwN). Denn der Kläger beruft sich haupt­säch­lich auf Umstän­de, die bereits bei Erlass des Beschei­des vom 30.9.2002 in der Gestalt des Wider­spruchs­be­schei­des vom 28.10.2002 vor­la­gen.
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Dieses Begeh­ren hat der Beklag­te zwar nicht aus­drück­lich beschie­den, denn der ange­foch­te­ne Ver­wal­tungs­akt (Bescheid vom 20.2.2004 in der Gestalt des Wider­spruchs­be­schei­des vom 15.4.2004) nennt als Rechts­grund­la­ge ledig­lich § 48 SGB X. Nach dem Inhalt dieses Ver­wal­tungs­akts sollte der Antrag des Klä­gers jedoch in vollem Umfang abge­lehnt werden. Eine wei­te­re geson­der­te Ent­schei­dung des Beklag­ten über den Antrag auf Rück­nah­me eines rechts­wid­ri­gen, nicht begüns­ti­gen­den Ver­wal­tungs­akts (Zuguns­ten­an­trag) ist im Bescheid vom 20.2.2004 in der Gestalt des Wider­spruchs­be­schei­des vom 15.4.2004 weder ange­kün­digt noch vor­be­hal­ten worden (zur auch dem Revi­si­ons­ge­richt oblie­gen­den Aus­le­gung von Ver­wal­tungs­ak­ten vgl etwa BSG, Urteil vom 28.6.1990 — 4 RA 57/89, BSGE 67, 104, 110 = SozR 3–1300 § 32 Nr 2 S 11; BSG, Urteil vom 16.6.1999 — B 9 V 13/98 R, SozR 3–1200 § 42 Nr 8 S 26). Der Ver­wal­tungs­akt leidet daher nur an einer unvoll­stän­di­gen Begrün­dung.
18
In der Folge haben sowohl das SG mit seiner Klag­ab­wei­sung als auch das LSG mit der Zurück­wei­sung der Beru­fung die ableh­nen­de Ent­schei­dung des Beklag­ten bestä­tigt und damit auch über das mit kom­bi­nier­ter Anfech­tungs- und Ver­pflich­tungs­kla­ge (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG) ver­folg­te Kla­ge­be­geh­ren (§ 123 SGG) ent­schie­den, den Beklag­ten unter Auf­he­bung ent­ge­gen­ste­hen­der Ver­wal­tungs­ent­schei­dun­gen zu ver­pflich­ten, einen GdB von wenigs­tens 50 fest­zu­stel­len.
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2. Rechts­grund­la­ge für den vor­ran­gig zu prü­fen­den Rück­nah­me­an­spruch des Klä­gers in Bezug auf die Fest­stel­lung seines GdB für die Zeit ab Juli 2003 ist § 44 Abs 2 Satz 1 SGB X iVm § 69 SGB IX sowie den (nor­m­ähn­li­chen) AHP 1996.
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a) Nach § 44 Abs 2 Satz 1 SGB X ist ein rechts­wid­ri­ger nicht begüns­ti­gen­der Ver­wal­tungs­akt, auch nach­dem er unan­fecht­bar gewor­den ist, ganz oder teil­wei­se mit Wir­kung für die Zukunft zurück­zu­neh­men. Die Rege­lung des § 44 Abs 1 SGB X ist im vor­lie­gen­den Fall nicht anwend­bar, weil die Fest­stel­lung des GdB nach dem SGB IX keine Sozi­al­leis­tung ist (hierzu aus­führ­lich: BSG, Urteil vom 29.5.1991 — 9a/9 RVs 11/89, BSGE 69, 14, 17 f = SozR 3–1300 § 44 Nr 3 S 9 f) . Der Rück­nah­me­an­spruch nach § 44 Abs 2 Satz 1 SGB X setzt dem­nach voraus, dass der Ver­wal­tungs­akt, dessen Rück­nah­me begehrt wird, im Zeit­punkt seiner Bekannt­ga­be (§ 39 Abs 1 SGB X) rechts­wid­rig und nicht begüns­ti­gend war (vgl etwa BSG, Urteil vom 7.9.2006 — B 4 RA 43/05 R, BSGE 97, 94, auch zur Ver­öf­fent­li­chung in SozR 4 vor­ge­se­hen, jeweils RdNr 54).
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Nicht begüns­ti­gend ist die im Bescheid vom 30.9.2002 in der Gestalt des Wider­spruchs­be­schei­des vom 28.10.2002 vom Beklag­ten getrof­fe­ne Rege­lung schon des­halb, weil dieser ent­ge­gen dem Begeh­ren des Klä­gers ledig­lich einen GdB von 40 fest­ge­stellt und die Fest­stel­lung eines höhe­ren GdB abge­lehnt hat. Für die Beur­tei­lung der Rechts­wid­rig­keit ist — wie bei einer Rück­nah­me nach § 44 Abs 1 SGB X — auf die dama­li­ge (dh im Zeit­punkt der Bekannt­ga­be des Ver­wal­tungs­akts bestehen­de) Sach- und Rechts­la­ge abzu­stel­len (vgl BSG, Urteil vom 25.10.1984 — 11 RAz 3/83, BSGE 57, 209, 210 = SozR 1300 § 44 Nr 13 S 21 f; BSG, Urteil vom 26.1.1988 — 2 RU 5/87, BSGE 63, 18, 23 = SozR 1300 § 44 Nr 31 S 84; BSG, Urteil vom 3.4.2001 — B 4 RA 22/00 R, BSGE 88, 75, 81 = SozR 3–2200 § 1265 Nr 20 S 136 f; BSG, Urteil vom 14.11.2002 — B 13 RJ 47/01 R, BSGE 90, 136, 138 = SozR 3–2600 § 300 Nr 18 S 86).
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Bei Bekannt­ga­be des Beschei­des vom 30.9.2002 in der Gestalt des Wider­spruchs­be­schei­des vom 28.10.2002 war Rechts­grund­la­ge für die Fest­stel­lung des GdB § 69 Abs 1 und Abs 3 SGB IX idF des Geset­zes vom 19.6.2001 (BGBl I 1046). Nach Abs 1 Satz 1 dieser Vor­schrift stel­len die für die Durch­füh­rung des Bun­des­ver­sor­gungs­ge­set­zes (BVG) zustän­di­gen Behör­den auf Antrag eines behin­der­ten Men­schen in einem beson­de­ren Ver­fah­ren das Vor­lie­gen einer (unbe­nann­ten) Behin­de­rung und den GdB fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs 1 Satz 3 SGB IX die Aus­wir­kun­gen auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft nach Zeh­ner­gra­den abge­stuft fest­ge­stellt. Gemäß § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX gelten die im Rahmen des § 30 Abs 1 BVG fest­ge­leg­ten Maß­stä­be ent­spre­chend. Dem­nach ver­weist das SGB IX inso­weit für die Fest­stel­lung des GdB auf das ver­sor­gungs­recht­li­che Bewer­tungs­sys­tem, dessen Aus­gangs­punkt die “Min­dest­vom­hun­dert­sät­ze” für eine grö­ße­re Zahl erheb­li­cher äuße­rer Kör­per­schä­den iS der Nr 5 Ver­wal­tungs­vor­schrift zu § 30 BVG sind (zum Rechts­cha­rak­ter dieser Vor­schrift: BSG, Urteil vom 26.11.1968 — 9 RV 262/66, BSGE 29, 41, 42 f = SozR Nr 35 zu § 30 BVG; s aber auch BSG, Urteil vom 18.9.2003 — B 9 SB 3/02 R, BSGE 91, 205 = SozR 4–3250 § 69 Nr 2, jeweils RdNr 13). Von diesen leiten sich die aus den Erfah­run­gen der Ver­sor­gungs­ver­wal­tung und den Erkennt­nis­sen der medi­zi­ni­schen Wis­sen­schaft gewon­ne­nen GdB/Minderung der Erwerbsfähigkeit(MdE)-Tabellenwerte der AHP für die ein­zel­nen ver­schie­de­nen Funk­ti­ons- bzw Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gun­gen (vgl Nr 26.2 bis Nr 26.18 AHP 1996; dazu auch Nr 18 Abs 3 AHP 1996) ab.
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Liegen meh­re­re Beein­träch­ti­gun­gen der Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft vor, so wird der GdB gemäß § 69 Abs 3 Satz 1 SGB IX nach den Aus­wir­kun­gen der Beein­träch­ti­gun­gen in ihrer Gesamt­heit unter Berück­sich­ti­gung ihrer wech­sel­sei­ti­gen Bezie­hun­gen fest­ge­stellt (vgl dazu auch Nr 19 AHP 1996; BSG, Urteil vom 16.3.1994 — 9 RVs 6/93, SozR 3–3870 § 4 Nr 9 S 39 f; BSG, Urteil vom 10.9.1997 — 9 RVs 15/96, BSGE 81, 50, 53 f = SozR 3–3870 § 3 Nr 7 S 16 f; BSG, Urteil vom 13.12.2000 — B 9 V 8/00 R, SozR 3–3870 § 4 Nr 28 S 107; BSG, Urteil vom 11.11.2004 — B 9 SB 1/03 R, juris RdNr 13). In einem ersten Schritt sind dabei die ein­zel­nen nicht nur vor­über­ge­hen­den Gesund­heits­stö­run­gen im Sinne von regel­wid­ri­gen (von der Norm abwei­chen­den) Zustän­den und die sich daraus erge­ben­den Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gun­gen fest­zu­stel­len. In einem zwei­ten Schritt sind diese den in den AHP 1996 genann­ten Funk­ti­ons­sys­te­men zuzu­ord­nen und mit einem Einzel-GdB zu bewer­ten. In einem drit­ten Schritt ist dann — in der Regel aus­ge­hend von der Beein­träch­ti­gung mit dem höchs­ten Einzel-GdB (vgl Nr 19 Abs 3 AHP 1996) - in einer Gesamt­schau unter Berück­sich­ti­gung der wech­sel­sei­ti­gen Bezie­hun­gen der ein­zel­nen Beein­träch­ti­gun­gen der (Gesamt-)GdB zu bilden. Dabei können die Aus­wir­kun­gen der ein­zel­nen Beein­träch­ti­gun­gen inein­an­der auf­ge­hen (sich decken), sich über­schnei­den, sich ver­stär­ken oder bezie­hungs­los neben­ein­an­der stehen. Außer­dem sind bei der Gesamt­wür­di­gung die Aus­wir­kun­gen mit den­je­ni­gen zu ver­glei­chen, für die in der GdB/M­dE-Tabel­le der AHP 1996 feste Grade ange­ge­ben sind (vgl Nr 19 Abs 2 AHP 1996) ; mithin ist auch zu beach­ten, in wel­chen Fällen die AHP 1996 bzw die Nr 5 Ver­wal­tungs­vor­schrift zu § 30 BVG die Schwer­be­hin­de­rung — GdB von 50 — zubil­li­gen.
24
b) Grund­sätz­lich ist es nicht zu bean­stan­den, dass der Beklag­te im September/Oktober 2002 zur Beur­tei­lung des GdB die AHP 1996 her­an­ge­zo­gen hat.
25
aa) Der erken­nen­de Senat hat bereits ent­schie­den, dass die AHP grund­sätz­lich den Maß­stab ange­ben, nach dem der GdB ein­zu­schät­zen ist (vgl BSG, Urteil vom 18.9.2003 — B 9 SB 3/02 R, BSGE 91, 205 = SozR 4–3250 § 69 Nr 2, jeweils RdNr 10 ff). Bei den AHP han­delt es sich um anti­zi­pier­te Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten, deren Beacht­lich­keit im kon­kre­ten Ver­wal­tungs- und Gerichts­ver­fah­ren sich zum einen daraus ergibt, dass eine dem all­ge­mei­nen Gleich­heits­satz ent­spre­chen­de Rechts­an­wen­dung nur dann gewähr­leis­tet ist, wenn die ver­schie­de­nen Behin­de­run­gen nach glei­chen Maß­stä­ben beur­teilt werden (dazu vor allem auch BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Ersten Senats vom 6.3.1995 — 1 BvR 60/95, SozR 3–3870 § 3 Nr 6 S 11 f ). Zum ande­ren stel­len die AHP ein geeig­ne­tes, auf Erfah­rungs­wer­ten der Ver­sor­gungs­ver­wal­tung und Erkennt­nis­sen der medi­zi­ni­schen Wis­sen­schaft beru­hen­des Beur­tei­lungs­ge­fü­ge zur Ein­schät­zung des GdB dar (stRspr des BSG; vgl BSG, Urteil vom 23.6.1993 — 9/9a RVs 1/91, BSGE 72, 285, 286 f = SozR 3–3870 § 4 Nr 6 S 30 f; BSG, Urteil vom 11.10.1994 — 9 RVs 1/93, BSGE 75, 176, 178 = SozR 3–3870 § 3 Nr 5 S 7; BSG, Urteil vom 18.9.2003 — B 9 SB 3/02 R; BSGE 91, 205 = SozR 4–3250 § 69 Nr 2, jeweils RdNr 14). Inso­fern wirken die AHP nor­m­ähn­lich. Wie unter­ge­setz­li­che Normen sind sie auf ihre Ver­ein­bar­keit mit Gesetz und Ver­fas­sung, auf Berück­sich­ti­gung des gegen­wär­tig herr­schen­den Kennt­nis­stan­des der sozi­al­me­di­zi­ni­schen Wis­sen­schaft sowie auf Lücken in Son­der­fäl­len zu prüfen, die wegen ihrer indi­vi­du­el­len Ver­hält­nis­se abwei­chend zu beur­tei­len sind. Im Hin­blick auf eine so bemes­se­ne rich­ter­li­che Kon­trol­le haben es sowohl die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG (aaO, SozR 3–3870 § 3 Nr 6 S 12) als auch der erken­nen­de Senat (aaO, BSGE 91, 205 = SozR 4–3250 § 69 Nr 2, jeweils RdNr 15) trotz Feh­lens einer gesetz­li­chen Ermäch­ti­gungs­grund­la­ge nicht als ange­zeigt ange­se­hen, gegen die Anwen­dung der AHP ein­zu­schrei­ten.
26
bb) Die AHP 1996 sind auch nicht durch das Inkraft­tre­ten des SGB IX zum 1.7.2001 unver­ein­bar mit höher­ran­gi­gem Recht gewor­den. § 2 Abs 1 Satz 1 SGB IX hat zwar den Begriff der Behin­de­rung anders umschrie­ben als § 3 Abs 1 Gesetz zur Siche­rung der Ein­glie­de­rung Schwer­be­hin­der­ter in Arbeit, Beruf und Gesell­schaft (Schwer­be­hin­der­ten­ge­setz — SchwbG) . Danach sind Men­schen behin­dert, wenn ihre kör­per­li­che Funk­ti­on, geis­ti­ge Fähig­keit oder see­li­sche Gesund­heit mit hoher Wahr­schein­lich­keit länger als sechs Monate von dem für das Lebens­al­ter typi­schen Zustand abwei­chen und daher ihre Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft beein­träch­tigt ist. Damit soll nach der Geset­zes­be­grün­dung ent­spre­chend der “Inter­na­tio­na­len Klas­si­fi­ka­ti­on der Funk­ti­ons­fä­hig­keit und Behin­de­rung” (deren Wei­ter­ent­wick­lung wurde im Mai 2001 von der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on als ICF ver­ab­schie­det) das Ziel der Teil­ha­be an den ver­schie­de­nen Lebens­be­rei­chen (Par­ti­zi­pa­ti­on) in den Vor­der­grund gerückt werden (vgl BT-Drucks 14/5074 S 98 zu § 2). Diesen Aspekt hatte der erken­nen­de Senat jedoch schon nach altem Recht (§ 3 Abs 1 SchwbG) berück­sich­tigt (vgl etwa BSG, Urteil vom 9.10.1987 — 9a RVs 5/86, BSGE 62, 209, 211 f = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 82). Aus­gangs­punkt der GdB-Bewer­tung der ver­schie­de­nen Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gun­gen ist dem­nach auch unter Gel­tung des SGB IX — also auch für September/Oktober 2002 — das in sich geschlos­se­ne Beur­tei­lungs­ge­fü­ge der AHP 1996.
27
c) Soweit es die Bewer­tung des (Einzel-)GdB für den beim Kläger im September/Oktober 2002 (auch schon) bestehen­den und mit Insu­lin behan­del­ten Dia­be­tes mel­li­tus anbe­langt, bedür­fen die inso­weit ein­schlä­gi­gen Aus­füh­run­gen unter Nr 26.15 AHP 1996 einer dif­fe­ren­zier­ten Betrach­tung. Sie ent­spre­chen nur mit gewis­sen Maß­ga­ben dem höher­ran­gi­gen Recht und dem Stand der medi­zi­ni­schen Wis­sen­schaft.
28
Soweit das LSG in diesem Zusam­men­hang Fest­stel­lun­gen zu all­ge­mei­nen medi­zi­ni­schen Erkennt­nis­sen getrof­fen hat, ist der Senat daran nicht im Sinne von § 163 SGG gebunden.Denn es ist auch Auf­ga­be der Revi­si­ons­ge­rich­te, auf medi­zi­ni­schen Erfah­rungs­sät­zen und wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­sen beru­hen­de all­ge­mei­ne (gene­rel­le) Tat­sa­chen zu ermit­teln und fest­zu­stel­len, um in dieser Hin­sicht eben­falls die Ein­heit­lich­keit der Recht­spre­chung sicher­zu­stel­len und so die Rechts­ein­heit zu wahren (zur feh­len­den Bin­dung des Revi­si­ons­ge­richts bei der Fest­stel­lung gene­rel­ler Tat­sa­chen vgl zB: BSG, Beschluss vom 7.10.2005 — B 1 KR 107/04 B, SozR 4–1500 § 160a Nr 9 RdNr 6; BSG, Urteil vom 13.12.2005 — B 1 KR 21/04 R, SozR 4–2500 § 18 Nr 5 RdNr 18; BSG, Urteil vom 27.6.2006 — B 2 U 20/04 R, BSGE 96, 291 = SozR 4–2700 § 9 Nr 7, jeweils RdNr 24; BSG, Urteil vom 27.6.2006 — B 2 U 5/05 R, BSGE 96, 297 = SozR 4–5671 § 6 Nr 2, jeweils RdNr 19). Dabei ist aller­dings zu berück­sich­ti­gen, dass eine GdB-Bewer­tung nicht allein auf der Anwen­dung medi­zi­ni­schen Wis­sens beruht. Viel­mehr ist sie unter Beach­tung der recht­li­chen Vor­ga­ben sowie unter Her­an­zie­hung des Sach­ver­stan­des ande­rer Wis­sens­zwei­ge zu ent­wi­ckeln (vgl zB BSG, Urteil vom 29.8.1990 — 9a/9 RVs 7/89, BSGE 67, 204, 208 = SozR 3–3870 § 4 Nr 1 S 5 f; dazu auch Masuch, Soz­Sich 2004, 314, 315; Straß­feld, SGb 2003, 613).
29
Nr 26.15 AHP 1996 sieht (ohne nach Typen zu unter­schei­den) für die mit dem Dia­be­tes mel­li­tus ver­bun­de­ne Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung bei Insu­lin­be­hand­lung für den Regel­fall fol­gen­de Bewer­tun­gen (Anhalts­wer­te) vor:
GdB
-
Dia­be­tes mel­li­tus durch Diät und orale Anti­dia­be­ti­ka und ergän­zen­de Insu­lin­in­jek­tio­nen aus­rei­chend ein­stell­bar
30
-
Dia­be­tes mel­li­tus durch Diät und allei­ni­ge Insu­lin­be­hand­lung gut ein­stell­bar
40
-
Dia­be­tes mel­li­tus durch Diät und allei­ni­ge Insu­lin­be­hand­lung schwer ein­stell­bar (häufig bei Kin­dern), auch gele­gent­li­che, aus­ge­präg­te Hypo­glyk­ämien
50
30
Dem­ge­gen­über hat die DDG inso­weit fol­gen­den Vor­schlag unter­brei­tet (Beche­rer ua, Dia­be­tes und Stoff­wech­sel 1998, 37 f):
Dia­be­tes mel­li­tus

behan­delt mit Diät

GdB
-
und einer Insu­lin­in­jek­ti­on pro Tag (auch bei zusätz­li­cher Gabe ande­rer oraler Anti­dia­be­ti­ka)
40
-
mit zwei und mehr Insu­lin­in­jek­tio­nen pro Tag oder Insu­lin­in­fu­si­ons­sys­te­men, je nach Häu­fig­keit der not­wen­di­gen Stoff­wech­sel­kon­trol­len
50 — 60
31
Um fest­zu­stel­len, ob die Anga­ben in Nr 26.15 AHP 1996 (und auch in Nr 26.15 AHP 2004) dem herr­schen­den Kennt­nis­stand der sozi­al­me­di­zi­ni­schen Wis­sen­schaft ent­spre­chen, hat der Senat Beweis erho­ben durch Ein­ho­lung von Stel­lung­nah­men des BMAS und der DDG sowie durch schrift­li­che und münd­li­che Anhö­rung von vier Sach­ver­stän­di­gen. Aus der Stel­lung­nah­me des BMAS vom 5.3.2008 ergibt sich, dass den Kri­te­ri­en für die GdB-Beur­tei­lung des Dia­be­tes mel­li­tus ein langer Ent­ste­hungs­pro­zess zugrun­de liegt. Im Zuge der grund­le­gen­den Über­ar­bei­tung der AHP für die Fas­sung 1996 wurden auch die DDG-Vor­schlä­ge zur GdB-Bewer­tung bei Dia­be­tes mel­li­tus in Fach­ge­sprä­chen mit aus­ge­wie­se­nen Dia­be­to­lo­gen ein­ge­hend dis­ku­tiert. Sie sind des­halb nicht in die AHP über­nom­men worden, weil der Ärzt­li­che Sach­ver­stän­di­gen­bei­rat von ihrer ver­sor­gungs­me­di­zi­ni­schen Rele­vanz im Hin­blick darauf nicht über­zeugt gewe­sen ist, dass sie im Kern auf eine am The­ra­pie­auf­wand ori­en­tier­te GdB-Erhö­hung zielen. Der Ärzt­li­che Sach­ver­stän­di­gen­bei­rat hat dem­ge­gen­über den Dia­be­tes-Typ, das Ausmaß der Erkran­kung, die Ein­stell­bar­keit und die Organ­kom­pli­ka­tio­nen für GdB-bestim­mend gehal­ten. Die gericht­li­chen Sach­ver­stän­di­gen haben ins­be­son­de­re Fragen zu den in Nr 26.15 AHP 1996 ver­wen­de­ten Kri­te­ri­en beant­wor­tet. In Anse­hung der ein­schlä­gi­gen recht­li­chen Vor­schrif­ten (§§ 2, 69 SGB IX) zieht der erken­nen­de Senat aus dem Ergeb­nis dieser Beweis­erhe­bung fol­gen­de Schlüs­se:
32
aa) Eine Unter­schei­dung zwi­schen den Typen I und II des Dia­be­tes mel­li­tus ist für die GdB-Bewer­tung nicht beson­ders hilf­reich.
33
In Nr 26.15 AHP 1996 wird nicht nach Dia­be­tes-Typen dif­fe­ren­ziert. Aller­dings geht die Nr 120 AHP 1996 davon aus, dass ua der insu­lin­ab­hän­gi­ge Dia­be­tes (Typ-I-Dia­be­tes) und der nicht-insu­lin­ab­hän­gi­ge Dia­be­tes (Typ-II-Dia­be­tes) zu unter­schei­den seien. Zu letz­te­rem gehöre auch ein Dia­be­tes mel­li­tus, der wegen Ver­sa­gens der oralen Anti­dia­be­ti­ka-The­ra­pie mit Insu­lin behan­delt werden müsse (AHP 1996, S 290). In der Fol­ge­zeit hat sich die Sek­ti­on “Ver­sor­gungs­me­di­zin” des Ärzt­li­chen Sach­ver­stän­di­gen­bei­rats bei dem jeweils zustän­di­gen Bun­des­mi­nis­te­ri­um (2001: Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Arbeit und Sozi­al­ord­nung; 2003: BMGS) mehr­fach mit der gut­acht­li­chen Beur­tei­lung des Dia­be­tes mel­li­tus befasst. Dabei wurde im Novem­ber 2001 darauf hin­ge­wie­sen, dass die Kri­te­ri­en zur Beur­tei­lung des GdB/M­dE-Grades bei Dia­be­tes mel­li­tus nur schein­bar die The­ra­pie in den Vor­der­grund stell­ten. Im Grunde werde die Beur­tei­lung primär vom Typ sowie der jewei­li­gen Aus­prä­gung und Aus­wir­kung der Stoff­wech­sel­stö­rung — und nur sekun­där von der Art der Behand­lung — bestimmt. Wenn ein Betrof­fe­ner mit Typ-II-Dia­be­tes mel­li­tus allein Insu­lin erhal­te und damit aus­rei­chend ein­stell­bar sei, bleibe er ein Typ-II-Dia­be­ti­ker, und damit sei nur ein GdB/M­dE-Grad von 30 gerecht­fer­tigt analog einem Dia­be­tes mel­li­tus, der durch Diät und orale Anti­dia­be­ti­ka und ergän­zen­de Insu­lin­in­jek­tio­nen aus­rei­chend ein­stell­bar sei. Eine Ände­rung der Beur­tei­lungs­kri­te­ri­en für den Dia­be­tes mel­li­tus sei daher nicht erfor­der­lich.
34
Im März 2003 stell­ten die Bei­rats­mit­glie­der fest, dass der Wort­laut der AHP irre­füh­ren könne ins­be­son­de­re, da bei Abfas­sung des Textes die allei­ni­ge Insu­lin­the­ra­pie des Dia­be­tes mel­li­tus Typ II eher die Aus­nah­me dar­ge­stellt habe. Sie emp­fah­len, zur Klar­stel­lung den Bei­rats­be­schluss von Novem­ber 2001 durch Rund­schrei­ben bekannt zu geben und zu erläu­tern. Dar­auf­hin ver­öf­fent­lich­te das BMGS in seinem Rund­schrei­ben vom 3.11.2003 — Az.: 435–65463‑5 — die Anmer­kun­gen des Sach­ver­stän­di­gen­bei­rats von Novem­ber 2001.
35
Mit der Aus­ga­be 2004 erhielt Nr 26.15 AHP dann fol­gen­de Fas­sung:
Dia­be­tes mel­li­tus
GdB/M­dE-Grad
Typ I durch Diät und allei­ni­ge Insu­lin­be­hand­lung
-
gut ein­stell­bar
 40
-
schwer ein­stell­bar (häufig bei Kin­dern) auch gele­gent­li­che, aus­ge­präg­te Hypo­glyk­ämien
50
Typ II durch Diät allein (ohne blut­zu­cker­re­geln­de Medi­ka­men­te) oder durch Diät
-
und Koh­len­hy­dra­tre­sorp­ti­ons­ver­zö­ge­rer oder Bigua­ni­de (dh orale Anti­dia­be­ti­ka, die allein nicht zur Hypo­glyk­ämie führen) aus­rei­chend ein­stell­bar
10
-
und Sul­fo­nyl­harn­stof­fe (auch bei zusätz­li­cher Gabe ande­rer oraler Anti­dia­be­ti­ka) aus­rei­chend ein­stell­bar
20
-
und orale Anti­dia­be­ti­ka und ergän­zen­de oder allei­ni­ge Insu­lin­be­hand­lung aus­rei­chend ein­stell­bar
30
Häu­fi­ge, aus­ge­präg­te Hypo­glyk­ämien sowie Organ­kom­pli­ka­tio­nen sind ihren Aus­wir­kun­gen ent­spre­chend zusätz­lich zu bewer­ten.
36
Nach dem Bekun­den der gericht­li­chen Sach­ver­stän­di­gen berück­sich­tigt die Unter­schei­dung zwi­schen dem Typ I und dem Typ II des Dia­be­tes mel­li­tus die Ent­ste­hung der Stoff­wech­sel­stö­rung und dient der Bestim­mung der Behand­lungs­me­tho­de. Diese rich­tet sich nach der vor­han­de­nen Rest­pro­duk­ti­on von Insu­lin (vgl dazu näher Kerner/Brückel, Defi­ni­ti­on, Klas­si­fi­ka­ti­on und Dia­gnos­tik des Dia­be­tes mel­li­tus, Dia­be­to­lo­gie 2008, 3 Suppl 2, S 131 ff) . Diese kli­ni­sche Unter­schei­dung erlaubt bei Vor­lie­gen einer Insu­lin­be­hand­lung keine trenn­schar­fe Dif­fe­ren­zie­rung nach den jeweils bestehen­den Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gun­gen (zum Mei­nungs­stand vgl ins­be­son­de­re von Krieg­s­tein, Dia­be­tes und Stoff­wech­sel 2004, 273; Rösner ua, Med­Sach 2004, 27) . Es gibt näm­lich nach der über­ein­stim­men­den Auf­fas­sung der vom Senat gehör­ten Sach­ver­stän­di­gen jeden­falls eine grö­ße­re Zahl Fälle des Dia­be­tes Typ II, bei denen unter Insu­lin­be­hand­lung ähn­li­che Hypo­glyk­ämie­pro­ble­me auf­tre­ten, wie bei einem Dia­be­tes Typ I. Dem­entspre­chend sind für die GdB-Bewer­tung letzt­lich andere Kri­te­ri­en maß­ge­bend.
37
bb) Der Begriff “ein­stell­bar” in Nr 26.15 AHP 1996 ist dahin aus­zu­le­gen, dass er darauf abstellt, ob bei dem behin­der­ten Men­schen (nicht nur vor­über­ge­hend) tat­säch­lich eine sta­bi­le oder insta­bi­le Stoff­wech­sel­la­ge besteht und wel­cher The­ra­pie­auf­wand dabei erfolgt.
38
Dem Begriff der Behin­de­rung iS von § 2 SGB IX würde es wider­spre­chen, die Ein­stell­bar­keit danach zu beur­tei­len, ob bei opti­ma­ler ärzt­li­cher The­ra­pie und Mit­wir­kung des Pati­en­ten eine sta­bi­le oder insta­bi­le Stoff­wech­sel­la­ge erreicht werden kann. Zwar ent­hält die Fest­stel­lung einer Behin­de­rung inso­weit ein pro­gnos­ti­sches Ele­ment, als es bei der vor­aus­sicht­li­chen Dauer des Zustan­des um die Über­schrei­tung der Sechs-Monats-Grenze geht; dabei ist jedoch von den tat­säch­li­chen Gege­ben­hei­ten und nicht von theo­re­ti­schen (hypo­the­ti­schen) Ver­hält­nis­sen aus­zu­ge­hen (vgl dazu auch Dalich­au, in Wie­gand, Reha­bi­li­ta­ti­ons­recht, § 2 SGB IX RdNr 24).
39
Der Begriff der “Ein­stell­bar­keit” ist nach der Dar­stel­lung der Sach­ver­stän­di­gen Prof. Dr. H und Dr. F kein sozi­al­me­di­zi­ni­scher, son­dern ein kli­ni­scher Begriff, der beschrei­ben soll, wie leicht oder wie schwer die all­ge­mei­nen The­ra­pie­zie­le beim Dia­be­tes mel­li­tus, näm­lich das Ver­mei­den von Hyper­glyk­ämien (erhöh­te Blut­zu­cker­wer­te) und Hypo­glyk­ämien (Unter­zu­cke­rung), erreicht werden können ( vgl allg dazu auch Eis­fel­der, Med­Sach 2004, 23; von Krieg­s­tein, Dia­be­tes und Stoff­wech­sel 2004, 273; Rösner ua, Med­Sach 2004, 27 ). Es wird dem­nach zum einen die Ein­stel­lungs­qua­li­tät beur­teilt, also ob bei dem behin­der­ten Men­schen eine sta­bi­le oder insta­bi­le Stoff­wech­sel­la­ge besteht. Zum ande­ren wird dabei der erfor­der­li­che The­ra­pie­auf­wand berück­sich­tigt. Um eine bestimm­te Ein­stel­lungs­qua­li­tät zu errei­chen, bedarf es eines bestimm­ten The­ra­pie­auf­wands, der bei schwer ein­stell­ba­rem Dia­be­tes mel­li­tus höher ist als bei leicht ein­stell­ba­rem.
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Ent­spre­chend diesem Begriffs­ver­ständ­nis ist nach Auf­fas­sung des Senats bei der GdB-Bewer­tung des Dia­be­tes mel­li­tus neben der Ein­stel­lungs­qua­li­tät auch der The­ra­pie­auf­wand zu beur­tei­len, soweit er sich auf die Teil­ha­be des behin­der­ten Men­schen am Leben in der Gesell­schaft nach­tei­lig aus­wirkt. Dage­gen über­zeugt der Bewer­tungs­vor­schlag der DDG nicht, soweit er aus­schließ­lich auf die Anzahl der Insu­lin­in­jek­tio­nen pro Tag abstellt. Es ist nicht ersicht­lich, inwie­fern ins­be­son­de­re eine ein­zi­ge Insu­lin­in­jek­ti­on am Tag für sich genom­men eine nen­nens­wer­te (zusätz­li­che) Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung dar­stellt. Ebenso wenig vermag sich der Senat davon zu über­zeu­gen, dass sich allein aus der Zahl der täg­li­chen Insu­lin­in­jek­tio­nen mit hin­rei­chen­der Sicher­heit und Genau­ig­keit auf das Ausmaß der durch einen Dia­be­tes mel­li­tus beding­ten Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung schlie­ßen lässt. Viel­mehr ist jeweils auch das Ergeb­nis der the­ra­peu­ti­schen Maß­nah­men, ins­be­son­de­re die erreich­te Stoff­wech­sel­la­ge zu betrach­ten. So wird der GdB rela­tiv nied­rig anzu­set­zen sein, wenn mit gerin­gem The­ra­pie­auf­wand eine aus­ge­gli­che­ne Stoff­wech­sel­la­ge erreicht wird. Mit (in beein­träch­ti­gen­der Weise) wach­sen­dem The­ra­pie­auf­wand und/oder abneh­men­dem The­ra­pie­er­folg (insta­bi­le­rer Stoff­wech­sel­la­ge) wird der GdB höher ein­zu­schät­zen sein. Dabei sind jeweils — im Ver­gleich zu ande­ren Behin­de­run­gen — die Aus­wir­kun­gen auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft in Betracht zu ziehen.
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3. Da das LSG den Neu­fest­stel­lungs­an­spruch des Klä­gers nicht nach § 44 SGB X geprüft, son­dern den Teil­ab­hil­fe­be­scheid vom 30.9.2002 in der Gestalt des Wider­spruchs­be­schei­des vom 28.10.2002 als bin­dend zugrun­de gelegt hat, fehlen hin­rei­chen­de Tat­sa­chen­fest­stel­lun­gen zum dama­li­gen Gesund­heits­zu­stand des Klä­gers. Dar­über hinaus hat die Vor­in­stanz die vom erken­nen­den Senat für erfor­der­lich gehal­te­nen Modi­fi­ka­tio­nen bei der Anwen­dung der Nr 26.15 AHP 1996 nicht berück­sich­tigt. Ins­be­son­de­re hat es nicht näher erwo­gen, inwie­fern sich die vom Kläger offen­bar damals schon durch­ge­führ­te inten­si­vier­te Insu­lin­the­ra­pie auf dessen Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft aus­ge­wirkt hat.
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Da der erken­nen­de Senat ent­spre­chen­de Ermitt­lun­gen im Revi­si­ons­ver­fah­ren nicht durch­füh­ren kann (vgl § 163 SGG), ist das vor­in­stanz­li­che Urteil auf­zu­he­ben und die Sache an das LSG zurück­zu­ver­wei­sen (vgl § 170 Abs 2 Satz 2 SGG) . Inso­fern kommt es nicht darauf an, ob das Beru­fungs­ur­teil auf den vom Kläger gerüg­ten Ver­fah­rens­män­geln beruht.
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4. Das LSG wird auch über die Kosten des Revi­si­ons­ver­fah­rens zu ent­schei­den haben.