Bun­des­so­zi­al­ge­richt, B 9 SB 3/09 R , Urteil vom 02.12.2010

Auf die Revi­si­on des Beklag­ten wird das Urteil des Lan­des­so­zi­al­ge­richts Berlin-Bran­den­burg vom 28. August 2009 auf­ge­ho­ben. Die Sache wird zur erneu­ten Ver­hand­lung und Ent­schei­dung an dieses Gericht zurück­ver­wie­sen.

 

Gründe:

I

1

Strei­tig ist, ob die Klä­ge­rin einen Anspruch auf Fest­stel­lung eines Grades der Behin­de­rung (GdB) von 50 nach dem Schwer­be­hin­der­ten­recht hat.

2

Auf den Antrag der 1953 gebo­re­nen Klä­ge­rin vom 19.4.2006 stell­te das beklag­te Land mit Bescheid vom 21.7.2006 wegen der Funk­ti­ons­be­ein­träch­ti­gun­gen Dia­be­tes mel­li­tus und Seh­min­de­rung einen GdB von 40 fest. Hier­bei ent­fiel nach der ver­sor­gungs­ärzt­li­chen Stel­lung­nah­me vom 14.7.2006 auf den Dia­be­tes mel­li­tus ein Einzel-GdB von 30 und auf die Seh­min­de­rung ein Einzel-GdB von 20. Den Wider­spruch der Klä­ge­rin wies der Beklag­te mit Wider­spruchs­be­scheid vom 23.11.2006 zurück.

3

Die auf die Fest­stel­lung eines GdB von 50 gerich­te­te Klage ist durch Urteil des Sozi­al­ge­richts (SG) Berlin vom 25.9.2007 abge­wie­sen worden. Mit Urteil vom 28.8.2009 hat das Lan­des­so­zi­al­ge­richt (LSG) Berlin-Bran­den­burg das Urteil des SG auf­ge­ho­ben und den Beklag­ten unter Ände­rung des Beschei­des vom 21.7.2006 in der Gestalt des Wider­spruchs­be­schei­des vom 23.11.2006 ver­ur­teilt, bei der Klä­ge­rin ab April 2006 einen GdB von 50 fest­zu­stel­len. Es hat seine Ent­schei­dung auf fol­gen­de Erwä­gun­gen gestützt:

4

Wäh­rend die Bewer­tung der Seh­min­de­rung der Klä­ge­rin wegen des (nach Kor­rek­tur) unver­än­dert bestehen­den Seh­ver­mö­gens von 0,9 auf dem rech­ten und 0,1 auf dem linken Auge mit einem Einzel-GdB von 20 nicht zu bean­stan­den sei, bedin­ge die Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung auf­grund des Dia­be­tes mel­li­tus einen Einzel-GdB von 40 anstatt 30. Nach der jüngs­ten Recht­spre­chung des Bun­des­so­zi­al­ge­richts (BSG Urteil vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 10/06 RSozR 4–3250 § 69 Nr 9; Urteil vom 11.12.2008 — B 9/9a SB 4/07 R — juris; Urteil vom 23.4.2009 — B 9 SB 3/08 R — juris) sei bei der GdB-Bewer­tung eines Dia­be­tes mel­li­tus auch für noch nicht bestands­kräf­tig ent­schie­de­ne Zeit­räu­me grund­sätz­lich die seit dem 1.1.2009 gel­ten­de Nr 15.1 des Teils B der Anlage “Ver­sor­gungs­me­di­zi­ni­sche Grund­sät­ze” zur Ver­sor­gungs­me­di­zin-Ver­ord­nung (Anl Vers­MedV) vom 10.12.2008 (BGBl I 2412; Anla­ge­band zum BGBl I Nr 57) her­an­zu­zie­hen. Aller­dings müsse dabei neben der Ein­stel­lungs­qua­li­tät auch der The­ra­pie­auf­wand berück­sich­tigt werden. Im Falle der Klä­ge­rin bestehe zwar ein häu­fi­ger Wech­sel von Hypo- und Hyper­glyk­ämien; durch die Insu­lin­the­ra­pie würden jedoch aus­ge­präg­te oder schwe­re Hypo­glyk­ämien ver­mie­den und eine — auch nach Angabe der Klä­ge­rin — zufrie­den­stel­len­de Stoff­wech­sel­la­ge erreicht. Die einmal am Tag not­wen­di­ge Kon­trol­le der Blut­zu­cker­wer­te, die drei­mal täg­lich erfor­der­li­che Injek­ti­on von Insu­lin und die Ein­hal­tung einer bestimm­ten Diät unter Wah­rung stren­ger Essens­zei­ten träfen regel­mä­ßig Dia­be­ti­ker unter Insu­lin­the­ra­pie und seien der von der behan­deln­den Ärztin vor­ge­schrie­be­nen The­ra­pie­form geschul­det. Diese Gege­ben­hei­ten könn­ten einen höhe­ren Einzel-GdB als 30 an sich nicht begrün­den. Ent­schei­dend für eine Höher­be­wer­tung sei, dass die Klä­ge­rin gehal­ten sei, regel­mä­ßig über einen Zeit­raum von andert­halb Stun­den am Tag Sport (Nordic Wal­king) zu trei­ben, und dies unmit­tel­bar zum The­ra­pie­er­folg bei­tra­ge. Der hier­für betrie­be­ne Auf­wand sei auch unter dem Aspekt, dass sport­li­che Betä­ti­gung all­ge­mein wün­schens­wert sei, nicht als gering im Sinne der Recht­spre­chung des BSG ein­zu­stu­fen.

5

Mit seiner vom LSG zuge­las­se­nen Revi­si­on rügt der Beklag­te die Ver­let­zung mate­ri­el­len Rechts durch die Berück­sich­ti­gung von sport­li­cher Betä­ti­gung als Beein­träch­ti­gung der Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft iS des § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX. Er macht gel­tend:

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Der von der Klä­ge­rin betrie­be­ne Sport und Sport im All­ge­mei­nen sei — auch auf ärzt­li­che Emp­feh­lung hin — nicht Teil der medi­zi­ni­schen The­ra­pie eines Dia­be­tes mel­li­tus und kein die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft beein­träch­ti­gen­der The­ra­pie­auf­wand. Das LSG habe inso­weit weder nach der Art des The­ra­pie­auf­wands und nach dem zeit­li­chen Auf­wand dif­fe­ren­ziert. Eine nach­tei­li­ge Aus­wir­kung auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft sei in sport­li­cher Betä­ti­gung gerade nicht zu sehen. Sport wirke sich posi­tiv auf die Gesund­heit aus, auch und gerade bei Dia­be­ti­kern. Ins­be­son­de­re Sport in Gemein­schaft könne die Qua­li­tät der Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft eher erhö­hen als ein­schrän­ken. Sport­li­che Ertüch­ti­gung könne auch nicht gleich­ge­setzt werden mit dem Messen von bestimm­ten Werten oder der Ein­hal­tung bestimm­ter Zeit­plä­ne bei Medi­ka­men­ten­ein­nah­me oder erfor­der­li­chen Injek­tio­nen.

7

Der Beklag­te bean­tragt, das Urteil des Lan­des­so­zi­al­ge­richts Berlin-Bran­den­burg vom 28. August 2009 auf­zu­he­ben und die Beru­fung der Klä­ge­rin gegen das Urteil des Sozi­al­ge­richts Berlin vom 25. Sep­tem­ber 2007 zurück­zu­wei­sen.

8

Die Klä­ge­rin bean­tragt, die Revi­si­on zurück­zu­wei­sen.

9

Sie schließt sich dem ange­foch­te­nen Urteil an und macht ua gel­tend, dass die nach­tei­li­ge Aus­wir­kung von medi­zi­nisch not­wen­di­gem Sport in der feh­len­den Wahl­mög­lich­keit des Betrof­fe­nen, sich sport­lich zu betä­ti­gen oder nicht, und in dem mit der medi­zi­nisch not­wen­di­gen sport­li­chen Betä­ti­gung ver­bun­de­nen Aus­schluss von ande­ren Akti­vi­tä­ten des gesell­schaft­li­chen Lebens zu sehen sei.

II

10

Die Revi­si­on ist zuläs­sig und im Sinne der Auf­he­bung des ange­foch­te­nen Urteils des LSG und der Zurück­ver­wei­sung der Sache an dieses Gericht begrün­det (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

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1. Gegen­stand des Revi­si­ons­ver­fah­rens ist die Auf­he­bung des vor­in­stanz­li­chen Urteils, durch das der Beklag­te ver­ur­teilt worden ist, bei der Klä­ge­rin ab April 2006 einen GdB von 50 fest­zu­stel­len. Das pro­zes­sua­le Ziel des Beklag­ten ist die Bestä­ti­gung der erst­in­stanz­lich erfolg­ten Abwei­sung der von der Klä­ge­rin gegen den Bescheid vom 21.7.2006 in Gestalt des Wider­spruchs­be­scheids vom 23.11.2006 erho­be­nen kom­bi­nier­ten Anfech­tungs- und Ver­pflich­tungs­kla­ge (§ 54 Abs 1 Satz 1 SGG — zur statt­haf­ten Kla­ge­art vgl BSG Urteil vom 12.4.2000 — B 9 SB 3/99 RSozR 3–3870 § 3 Nr 9 S 21 f).

12

2. Rechts­grund­la­ge für den Anspruch der Klä­ge­rin auf Fest­stel­lung eines GdB von 50 ist § 69 Abs 1 und 3 SGB IX idF vom 23.4.2004 (BGBl I 606; aF) und für die Zeit ab dem 21.12.2007 idF vom 13.12.2007 (BGBl I 2904; nF). Nach § 69 Abs 1 Satz 1 SGB IX (beider Fas­sun­gen) stel­len die für die Durch­füh­rung des Bun­des­ver­sor­gungs­ge­set­zes (BVG) zustän­di­gen Behör­den auf Antrag eines behin­der­ten Men­schen in einem beson­de­ren Ver­fah­ren das Vor­lie­gen einer Behin­de­rung und den GdB fest. Als GdB werden dabei nach § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX (beider Fas­sun­gen) die Aus­wir­kun­gen auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft nach Zeh­ner­gra­den abge­stuft fest­ge­stellt. Gemäß § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX aF gelten die im Rahmen des § 30 Abs 1 BVG fest­ge­leg­ten Maß­stä­be ent­spre­chend. Durch diesen Ver­weis auf die im Rahmen des § 30 Abs 1 BVG fest­ge­leg­ten Maß­stä­be stellt § 69 SGB IX auf das ver­sor­gungs­recht­li­che Bewer­tungs­sys­tem ab, dessen Aus­gangs­punkt die “Min­dest­vom­hun­dert­sät­ze” für eine grö­ße­re Zahl erheb­li­cher äuße­rer Kör­per­schä­den iS der Nr 5 All­ge­mei­ne Ver­wal­tungs­vor­schrif­ten zu § 30 BVG sind. Von diesen leiten sich die aus den Erfah­run­gen der Ver­sor­gungs­ver­wal­tung und den Erkennt­nis­sen der medi­zi­ni­schen Wis­sen­schaft gewon­ne­nen Tabel­len­wer­te der Anhalts­punk­te für die ärzt­li­che Gut­ach­ter­tä­tig­keit im Sozia­len Ent­schä­di­gungs­recht und nach dem Schwer­be­hin­der­ten­recht (AHP) ab. Gemäß § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX nF wird zusätz­lich auf die auf­grund des § 30 Abs 17 BVG erlas­se­ne Rechts­ver­ord­nung Bezug genom­men, so dass ab 1.1.2009 die Vers­MedV vom 10.12.2008 (BGBl I 2412), die zuletzt durch die Ver­ord­nung vom 14.7.2010 (BGBl I 928) geän­dert worden ist, anstel­le der AHP Grund­la­ge für die Fest­stel­lung des GdB ist (vgl auch BSG Urteil vom 30.9.2009 — B 9 SB 4/08 RSozR 4–3250 § 69 Nr 10 RdNr 16 f).

13

Die AHP und die zum 1.1.2009 in Kraft getre­te­ne Anl Vers­MedV stel­len ihrem Inhalt nach anti­zi­pier­te Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten dar (stRspr des BSG; vgl Urteil vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 10/06 RSozR 4–3250 § 69 Nr 9 RdNr 25 mwN; vgl auch zur Rechts­la­ge nach dem Schwer­be­hin­der­ten­ge­setz: BVerfG Beschluss vom 6.3.1995 — 1 BvR 60/95SozR 3–3870 § 3 Nr 6 S 11f), die den Behin­de­rungs­be­griff der “Inter­na­tio­na­len Klas­si­fi­ka­ti­on der Funk­ti­ons­fä­hig­keit und Behin­de­rung” (deren Wei­ter­ent­wick­lung wurde im Mai 2001 von der Welt­ge­sund­heits­or­ga­ni­sa­ti­on als ICF ver­ab­schie­det) als Grund­la­ge des Bewer­tungs­sys­tems berück­sich­ti­gen, auch wenn dieses Klas­si­fi­ka­ti­ons­mo­dell in den AHP und der Anl Vers­MedV bis­lang nicht über­all kon­se­quent umge­setzt worden ist (vgl Vers­MedV, Ein­lei­tung S 5, 1. Aufl 2009). Dabei beruht das für die Aus­wir­kun­gen von Gesund­heits­stö­run­gen auf die Teil­ha­be an der Gesell­schaft rele­van­te Maß nicht allein auf der Anwen­dung medi­zi­ni­schen Wis­sens. Viel­mehr ist die GdB-Bewer­tung auch unter Beach­tung der recht­li­chen Vor­ga­ben sowie unter Her­an­zie­hung des Sach­ver­stan­des ande­rer Wis­sens­zwei­ge zu ent­wi­ckeln (vgl BSG Urteil vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 10/06 R — aaO, RdNr 28; BSG Urteil vom 29.8.1990 — 9a/9 RVs 7/89BSGE 67, 204, 208 = SozR 3–3870 § 4 Nr 1 S 5 f; dazu auch Masuch, Soz­Sich 2004, 314, 315; Straß­feld, SGb 2003, 613).

14

Dem tragen die AHP und die Anl Vers­MedV im Grund­satz Rech­nung. Dem­entspre­chend ist deren Inhalt nicht (aus­schließ­lich) mit Hilfe juris­ti­scher Aus­le­gungs­me­tho­den zu ermit­teln; viel­mehr sind dies­be­züg­li­che Zwei­fel vor­zugs­wei­se durch Nach­fra­ge bei dem ver­ant­wort­li­chen Urhe­ber, hier also beim “Ärzt­li­chen Sach­ver­stän­di­gen­bei­rat Ver­sor­gungs­me­di­zin” bzw dem für diesen geschäfts­füh­rend täti­gen Bun­des­mi­nis­te­ri­um für Arbeit und Sozia­les — BMAS (§ 3 Vers­MedV), zu klären (vgl zB dazu BSG Urteil vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 6/06 R — juris RdNr 21). Dar­über hinaus sind sowohl die AHP als auch die Vers­MedV (nebst Anlage) an den recht­li­chen Vor­ga­ben der §§ 2, 69 SGB IX zu messen. Dazu gehört, dass sie dem aktu­el­len Stand der Medi­zin ent­spre­chen müssen (vgl BSG Urteil vom 18.9.2003 — B 9 SB 3/02 RBSGE 91, 205 = SozR 4–3250 § 69 Nr 2; § 69 Abs 1 Satz 5 SGB IX, § 30 Abs 17 BVG iVm §§ 2, 3 Abs 1 Vers­MedV). Bei Ver­stö­ßen dage­gen sind sie nicht oder nur mit Maß­ga­ben anzu­wen­den (vgl auch BSG Urteil vom 30.9.2009 — B 9 SB 4/08 RSozR 4–3250 § 69 Nr 10 RdNr 19; BSG Urteil vom 23.4.2009 — B 9 SB 3/08 R — juris RdNr 30).

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Liegen meh­re­re Beein­träch­ti­gun­gen der Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft vor, so wird der GdB gemäß § 69 Abs 3 Satz 1 SGB IX (beider Fas­sun­gen) nach den Aus­wir­kun­gen der Beein­träch­ti­gun­gen in ihrer Gesamt­heit unter Berück­sich­ti­gung ihrer wech­sel­sei­ti­gen Bezie­hun­gen fest­ge­stellt. Zur Fest­stel­lung des GdB werden in einem ersten Schritt die ein­zel­nen nicht nur vor­über­ge­hen­den Gesund­heits­stö­run­gen im Sinne von regel­wid­ri­gen (von der Norm abwei­chen­den) Zustän­den (s § 2 Abs 1 SGB IX) und die sich daraus ablei­ten­den, für eine Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung bedeut­sa­men Umstän­de fest­ge­stellt. In einem zwei­ten Schritt sind diese den in den AHP/der Anl Vers­MedV genann­ten Funk­ti­ons­sys­te­men zuzu­ord­nen und mit einem Einzel-GdB zu bewer­ten. In einem drit­ten Schritt ist dann — in der Regel aus­ge­hend von der Beein­träch­ti­gung mit dem höchs­ten Einzel-GdB (vgl Nr 19 Abs 3 AHP und Teil A Nr 3 Anl Vers­MedV) — in einer Gesamt­schau unter Berück­sich­ti­gung der wech­sel­sei­ti­gen Bezie­hun­gen der ein­zel­nen Beein­träch­ti­gun­gen der Gesamt-GdB zu bilden. Dabei können die Aus­wir­kun­gen der ein­zel­nen Beein­träch­ti­gun­gen inein­an­der auf­ge­hen (sich decken), sich über­schnei­den, sich ver­stär­ken oder bezie­hungs­los neben­ein­an­der stehen. Außer­dem sind bei der Gesamt­wür­di­gung die Aus­wir­kun­gen mit den­je­ni­gen zu ver­glei­chen, für die in der GdB-Tabel­le der AHP/Anl Vers­MedV feste Grade ange­ge­ben sind (vgl Nr 19 Abs 2 AHP und Teil A Nr 3 b Anl Vers­MedV; vgl auch BSG Urteil vom 30.9.2009 — B 9 SB 4/08 R — aaO RdNr 18).

16

Die Bemes­sung des GdB ist nach der stän­di­gen Rechts­spre­chung des BSG grund­sätz­lich tat­rich­ter­li­che Auf­ga­be (vgl Urteil vom 29.11.1956 — 2 RU 121/56BSGE 4, 147, 149 f; Urteil vom 9.10.1987 — 9a RVs 5/86BSGE 62, 209, 212 f = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 83; Urteil vom 30.9.2009 — B 9 SB 4/08 R — aaO RdNr 23 mwN). Dabei hat ins­be­son­de­re die Fest­stel­lung der nicht nur vor­über­ge­hen­den Gesund­heits­stö­run­gen (erster Schritt) unter Her­an­zie­hung ärzt­li­chen Fach­wis­sens zu erfol­gen. Dar­über hinaus sind vom Tat­sa­chen­ge­richt die recht­li­chen Vor­ga­ben zu beach­ten. Recht­li­cher Aus­gangs­punkt sind stets § 2 Abs 1, § 69 Abs 1 und 3 SGB IX (s zuletzt BSG Urteil vom 30.9.2009 — B 9 SB 4/08 R — aaO RdNr 16 bis 21 mwN); danach sind ins­be­son­de­re die Aus­wir­kun­gen nicht nur vor­über­ge­hen­der Gesund­heits­stö­run­gen auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft maß­ge­bend.

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3. Gemes­sen an diesen recht­li­chen Rah­men­be­din­gun­gen hat das LSG den Einzel-GdB wegen der Seh­min­de­rung der Klä­ge­rin rechts­feh­ler­frei fest­ge­stellt. Nach dessen unan­ge­grif­fe­nen Fest­stel­lun­gen liegt bei der Klä­ge­rin eine kor­ri­gier­te Seh­schär­fe des rech­ten Auges von 0,9 und des linken von 0,1 vor. Grund­la­ge für die Bemes­sung des Einzel-GdB sind für die Zeit ab Antrag­stel­lung im April 2006 bis zum Ende des Jahres 2007 die AHP 2005, danach bis Ende des Jahres 2008 die AHP 2008 und für die Zeit ab dem 1.1.2009 die Vers­MedV. Bei Anwen­dung der für die GdB-Bewer­tung bei beid­äu­gi­ger Seh­schär­fe maß­geb­li­chen Tabel­le in den jewei­li­gen Fas­sun­gen der Nr 26.4 AHP, die zum 1.1.2009 unver­än­dert in Teil B Nr 4.3 Anl Vers­MedV über­nom­men worden ist, ergibt sich für diese nicht nur vor­über­ge­hen­de Gesund­heits­stö­rung ein Einzel-GdB von 20.

18

4. Soweit es den Einzel-GdB für den Dia­be­tes mel­li­tus der Klä­ge­rin betrifft, rei­chen die Tat­sa­chen­fest­stel­lun­gen des LSG nicht aus, um die vom LSG vor­ge­nom­me­ne Bemes­sung mit 40 zu bestä­ti­gen.

19

Zur GdB-Bewer­tung des Dia­be­tes mel­li­tus hat der erken­nen­de Senat mit Urteil vom 24.4.2008 (- B 9/9a SB 10/06 RSozR 4–3250 § 69 Nr 9) nach Beweis­auf­nah­me zu den all­ge­mei­nen medi­zi­ni­schen Erkennt­nis­sen über die Aus­wir­kun­gen dieser Krank­heit auf die Fähig­keit zur Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft ent­schie­den, dass die Bewer­tungs­grund­sät­ze der frü­he­ren Nr 26.15 AHP (Aus­ga­ben 1996 und 2004) nur mit gewis­sen Maß­ga­ben dem höher­ran­gi­gen Recht und dem Stand der medi­zi­ni­schen Wis­sen­schaft ent­spre­chen. Danach ist bei der GdB-Bewer­tung neben der Ein­stel­lungs­qua­li­tät auch der The­ra­pie­auf­wand zu berück­sich­ti­gen, soweit dieser sich auf die Teil­ha­be des behin­der­ten Men­schen am Leben in der Gesell­schaft nach­tei­lig aus­wirkt. Aus dieser Recht­spre­chung erge­ben sich hin­sicht­lich der maß­geb­li­chen Bewer­tungs­grund­sät­ze Beson­der­hei­ten, die das LSG nicht in vollem Umfang zutref­fend berück­sich­tigt hat.

20

a) Als Rechts­grund­la­gen für die Fest­stel­lung des GdB sind im vor­lie­gen­den Fall — zunächst all­ge­mein (formal) betrach­tet — für die Zeit vom 1.4.2006 bis zum 21.7.2010 die vor­läu­fi­ge Neu­fas­sung der Nr 26.15 AHP gemäß Rund­schrei­ben des BMAS vom 22.9.2008 (- IV C 3–48064‑3 -) an die zustän­di­gen obers­ten Lan­des­be­hör­den unter Beach­tung der Grund­sät­ze der Recht­spre­chung des erken­nen­den Senats (vgl Urteil vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 10/06 R — aaO RdNr 40) und ab 22.7.2010 die Rege­lung in Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV vom 14.7.2010 (BGBl I 928; nF) her­an­zu­zie­hen.

21

aa) Für den erst­ge­nann­ten Zeit­raum (1.4.2006 bis zum 21.7.2010) ist nach der Recht­spre­chung des Senats zu berück­sich­ti­gen, dass die vor­läu­fi­ge Neu­fas­sung der Nr 26.15 AHP unter Beach­tung der im Senats­ur­teil vom 24.4.2008 (- B 9/9a SB 10/06 R — aaO) dar­ge­leg­ten Grund­sät­ze rück­wir­kend auf Sach­ver­hal­te anzu­wen­den ist, die vor deren Ein­füh­rung durch das Rund­schrei­ben des BMAS vom 22.9.2008 liegen (vgl Urteil vom 11.12.2008 — B 9/9a SB 4/07 R — juris RdNr 15). Nach der vor­läu­fi­gen Neu­fas­sung der Nr 26.15 AHP ist inso­weit fol­gen­de Tabel­le anzu­wen­den:

Zucker­krank­heit (Dia­be­tes mel­li­tus) :

mit Diät allein (ohne blut­zu­cker­re­gu­lie­ren­de Medi­ka­men­te): 0

mit Medi­ka­men­ten ein­ge­stellt, die die Hypo­glyk­ämie­nei­gung nicht erhö­hen: 10

mit Medi­ka­men­ten ein­ge­stellt, die die Hypo­glyk­ämie­nei­gung erhö­hen: 20

unter Insu­lin­the­ra­pie, auch in Kom­bi­na­ti­on mit ande­ren blut­zu­cker­sen­ken­den Medi­ka­men­ten, je nach Sta­bi­li­tät der Stoff­wech­sel­la­ge (stabil oder mäßig schwan­kend): 30–40

unter Insu­lin­the­ra­pie insta­bi­le Stoff­wech­sel­la­ge ein­schließ­lich gele­gent­li­cher schwe­rer Hypo­glyk­ämien: 50

Häu­fi­ge, aus­ge­präg­te oder schwe­re Hypo­glyk­ämien sind zusätz­lich zu bewer­ten. Schwe­re Hypo­glyk­ämien sind Unter­zu­cke­run­gen, die eine ärzt­li­che Hilfe erfor­dern.

22

Die am 1.1.2009 in Kraft getre­te­ne und im Wort­laut mit der vor­läu­fi­gen Neu­fas­sung der Nr 26.15 AHP iden­ti­sche Rege­lung in Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV idF vom 10.12.2008 (BGBl I 2412; Anla­ge­band zum BGBl I Nr 57; aF) ist indes nicht zur GdB-Bewer­tung her­an­zu­zie­hen, da sie den gemäß § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX zwin­gend zu berück­sich­ti­gen­den The­ra­pie­auf­wand nicht erfasst und aus diesem Grund nich­tig ist (s BSG Urteil vom 23.4.2009 — B 9 SB 3/08 R — juris RdNr 30). Die Fest­stel­lung des GdB hat bis zu einer im Ein­klang mit den recht­li­chen Vor­ga­ben aus § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX ste­hen­den Neu­fas­sung der Bestim­mun­gen über den Dia­be­tes mel­li­tus nach den Grund­sät­zen des Urteils des erken­nen­den Senats vom 24.4.2008 (- B 9/9a SB 10/06 R — aaO RdNr 40) zu erfol­gen (BSG Urteil vom 23.4.2009 — B 9 SB 3/08 R — aaO RdNr 31).

23

bb) Die vom BMAS im Ein­ver­neh­men mit dem Bun­des­mi­nis­te­ri­um der Ver­tei­di­gung und mit Zustim­mung des Bun­des­rats erlas­se­ne Rege­lung in Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV nF ist mit den recht­li­chen Vor­ga­ben aus § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX ver­ein­bar und für die Zeit ab 22.7.2010 anzu­wen­den.

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Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV nF ist gemäß Art 2 Zweite Ver­ord­nung zur Ände­rung der Vers­MedV vom 14.7.2010 (BGBl I 928) am Tag nach ihrer Ver­kün­dung im Bun­des­ge­setz­blatt, also am 22.7.2010, in Kraft getre­ten und ent­fal­tet danach keine Rück­wir­kung. Maß­geb­li­cher Zeit­punkt für die Beur­tei­lung der Sach- und Rechts­la­ge bei der auf die Zukunft gerich­te­ten Ver­pflich­tungs­kla­ge ist der Zeit­punkt der letz­ten münd­li­chen Ver­hand­lung. Anders als bei Tat­sa­chen­fra­gen (vgl BSG Urteil vom 12.4.2000 — B 9 SB 3/99 RSozR 3–3870 § 3 Nr 9 S 22; Keller in Meyer-Lade­wi­g/Kel­ler/­Leit­he­rer, SGG, 9. Aufl 2008, § 54 RdNr 34) sind Rechts­än­de­run­gen, die wäh­rend der Rechts­hän­gig­keit der Ver­pflich­tungs­kla­ge ein­tre­ten, vom BSG zu beach­ten, auch wenn sie erst nach Erlass der mit der Revi­si­on ange­foch­te­nen gericht­li­chen Ent­schei­dung in Kraft getre­ten sind. Vor­aus­set­zung ist aller­dings, dass das neue Recht nach seinem zeit­li­chen Gel­tungs­wil­len das strei­ti­ge Rechts­ver­hält­nis erfas­sen will (stRspr des BSG; vgl zB Urteil vom 14.7.1993 — 6 RKa 71/91BSGE 73, 25, 27 = SozR 3–2500 § 116 Nr 4 S 26; Urteil vom 9.10.1987 — 9a RVs 5/86BSGE 62, 209, 210 = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 81; Urteil vom 25.3.2003 — B 1 KR 33/01 RSozR 4–1500 § 54 Nr 1 RdNr 5 f; vgl auch Keller, aaO, RdNr 34 mwN). Diese Vor­aus­set­zung liegt hier bezo­gen auf den Anspruch der Klä­ge­rin auf Fest­stel­lung des GdB für die Zeit ab 22.7.2010 vor, zumal nach der Begrün­dung der Zwei­ten Ver­ord­nung zur Ände­rung der Vers­MedV vom 14.7.2010 Anlass der jüngs­ten Neu­fas­sung der Grund­sät­ze zur GdB-Bewer­tung des Dia­be­tes mel­li­tus die og Recht­spre­chung des BSG war (vgl BR-Drucks 285/10 S 3 zu Nr 2).

25

Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV nF hat fol­gen­den Inhalt:

15.1 Zucker­krank­heit (Dia­be­tes mel­li­tus)

Die an Dia­be­tes erkrank­ten Men­schen, deren The­ra­pie regel­haft keine Hypo­glyk­ämie aus­lö­sen kann und die somit in der Lebens­füh­rung kaum beein­träch­tigt sind, erlei­den auch durch den The­ra­pie­auf­wand keine Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung, die die Fest­stel­lung eines GdS recht­fer­tigt. Der GdS beträgt 0.

Die an Dia­be­tes erkrank­ten Men­schen, deren The­ra­pie eine Hypo­glyk­ämie aus­lö­sen kann und die durch Ein­schnit­te in der Lebens­füh­rung beein­träch­tigt sind, erlei­den durch den The­ra­pie­auf­wand eine signi­fi­kan­te Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung. Der GdS beträgt 20.

Die an Dia­be­tes erkrank­ten Men­schen, deren The­ra­pie eine Hypo­glyk­ämie aus­lö­sen kann, die min­des­tens einmal täg­lich eine doku­men­tier­te Über­prü­fung des Blut­zu­ckers selbst durch­füh­ren müssen und durch wei­te­re Ein­schnit­te in der Lebens­füh­rung beein­träch­tigt sind, erlei­den je nach Ausmaß des The­ra­pie­auf­wands und der Güte der Stoff­wech­sel­ein­stel­lung eine stär­ke­re Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung. Der GdS beträgt 30 bis 40.

Die an Dia­be­tes erkrank­ten Men­schen, die eine Insu­lin­the­ra­pie mit täg­lich min­des­tens vier Insu­lin­in­jek­tio­nen durch­füh­ren, wobei die Insulin­do­sis in Abhän­gig­keit vom aktu­el­len Blut­zu­cker, der fol­gen­den Mahl­zeit und der kör­per­li­chen Belas­tung selb­stän­dig vari­iert werden muss, und durch erheb­li­che Ein­schnit­te gra­vie­rend in der Lebens­füh­rung beein­träch­tigt sind, erlei­den auf Grund dieses The­ra­pie­auf­wands eine aus­ge­präg­te Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung. Die Blut­zu­cker­selbst­mes­sun­gen und Insulin­do­sen (bezie­hungs­wei­se Insu­lin­ga­ben über die Insu­lin­pum­pe) müssen doku­men­tiert sein. Der GdS beträgt 50.

Außer­ge­wöhn­lich schwer regu­lier­ba­re Stoff­wech­sel­la­gen können jeweils höhere GdS-Werte bedin­gen.

26

Die auf­grund der Ermäch­ti­gungs­grund­la­ge des § 30 Abs 17 BVG erlas­se­ne Neu­fas­sung von Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV nF ist recht­mä­ßig. Sie ver­stößt in mate­ri­el­ler Hin­sicht nicht gegen höher­ran­gi­ges Recht (Ver­fas­sungs- und Par­la­ments­recht), ins­be­son­de­re nicht gegen § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX, wonach für die Fest­stel­lung des GdB die Aus­wir­kun­gen auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft maß­geb­lich sind. Inso­weit ent­spre­chen die in Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV nF ent­hal­te­nen Bewer­tungs­grund­sät­ze den Vor­ga­ben der Recht­spre­chung des erken­nen­den Senats (Urteil vom 24.4.2008, — B 9/9a SB 10/06 RSozR 4–3250 § 69 Nr 9 RdNr 40; Urteil vom 11.12.2008 — B 9/9a SB 4/07 R — juris RdNr 14; Urteil vom 23.4.2009 — B 9 SB 3/08 R — juris RdNr 25). Wie bereits die vor­läu­fi­ge Neu­fas­sung der AHP vom 22.9.2008 und die Rege­lung in Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV aF unter­schei­den sie nicht mehr zwi­schen den Typen I und II des Dia­be­tes mel­li­tus und stim­men mit der durch Beweis­auf­nah­me des Senats gewon­ne­nen Erkennt­nis über­ein, dass bei der GdB-Bewer­tung die Unter­schei­dung nach der Ent­ste­hung der Stoff­wech­sel­stö­rung nicht beson­ders hilf­reich ist, da es eine grö­ße­re Zahl Fälle des Dia­be­tes Typ II gibt, bei denen unter Insu­lin­be­hand­lung ähn­li­che Hypo­glyk­ämie­pro­ble­me auf­tre­ten, wie bei einem Dia­be­tes Typ I (Urteil vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 10/06 R — aaO RdNr 36). Als maß­geb­li­ches Kri­te­ri­um für die Schwe­re der Erkran­kung und damit für die GdB-Bewer­tung stel­len sie wie auch die vor­läu­fi­ge Neu­fas­sung der Nr 26.15 AHP, die der Senat — bis auf die feh­len­de Berück­sich­ti­gung von The­ra­pie­auf­wand — als Grund­la­ge für die GdB-Bewer­tung grund­sätz­lich nicht bean­stan­det hat (vgl Urteil vom 11.12.2008 — B 9/9a SB 4/07 R — aaO RdNr 15), auf die Hypo­glyk­ämie­nei­gung des Betrof­fe­nen ab. Zusätz­lich berück­sich­ti­gen sie sowohl den zur Errei­chung einer sta­bi­le­ren Stoff­wech­sel­la­ge not­wen­di­gen The­ra­pie­auf­wand als auch die Qua­li­tät der Stoff­wech­sel­la­ge. Anhalts­punk­te dafür, dass diese Bestim­mun­gen nicht dem aktu­el­len Stand der medi­zi­ni­schen Wis­sen­schaft ent­spre­chen könn­ten, sind nicht ersicht­lich.

27

Aller­dings ist die Vor­aus­set­zung der Doku­men­ta­ti­on der Blut­zu­cker­selbst­kon­trol­le bzw der Insulin­do­sen in Abs 3 und 4 von Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV nF nach Maß­ga­be des § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX und nach Sinn und Zweck dieser Doku­men­ta­ti­on nicht als mate­ri­ell-recht­li­che Anspruchs­vor­aus­set­zung für die Fest­stel­lung des GdB anzu­se­hen, auch wenn ins­be­son­de­re in Teil B Nr 15.1 Abs 4 Anl Vers­MedV nF aus­ge­führt ist, dass die Blut­zu­cker­selbst­mes­sun­gen und Insulin­do­sen (bzw Insu­lin­ga­ben über die Insu­lin­pum­pen) doku­men­tiert sein müssen. Es geht im Schwer­be­hin­der­ten­recht um die Fest­stel­lung der Aus­wir­kun­gen von Funk­ti­ons­be­ein­träch­ti­gun­gen. Dem­nach sind nicht Dia­gno­sen oder kör­per­li­che Defi­zi­te, son­dern es ist die Behin­de­rung selbst zu erfas­sen, die darin besteht, dass der von Krank­heit betrof­fe­ne Mensch nicht mehr die Gesamt­heit der ihm sozial zuge­schrie­be­nen Funk­tio­nen unbe­ein­träch­tigt und unge­fähr­det wahr­neh­men kann (stRspr des Senats; vgl Urteil vom 6.12.1989 — 9 RVs 3/89 — SozR 3870 § 4 Nr 3 S 11; Urteil vom 24.6.1998 — B 9 SB 17/97 RBSGE 82, 176, 177 f = SozR 3–3870 § 4 Nr 24 S 94 f; Urteil vom 15.7.2004 — B 9 SB 46/03 B — juris RdNr 7; Urteil vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 6/06 R — juris RdNr 18). Die Doku­men­ta­ti­on der Blut­zu­cker­selbst­mes­sun­gen und Insulin­do­sen hat — für sich genom­men — keinen Ein­fluss auf die tat­säch­lich bestehen­den Aus­wir­kun­gen auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft iS des § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX.

28

Der vom “Ärzt­li­chen Sach­ver­stän­di­gen­bei­rat Ver­sor­gungs­me­di­zin” ver­folg­te Zweck der vor­aus­ge­setz­ten Doku­men­ta­ti­on der Blut­zu­cker­wer­te und Insulin­do­sen ergibt sich aus der Begrün­dung des Ver­ord­nungs­ge­bers zur Ände­rung der Bewer­tungs­grund­sät­ze in Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV (BR-Drucks 285/10 S 3 zu Nr 2). Die vor­ge­schrie­be­ne Doku­men­ta­ti­on des The­ra­pie­auf­wands wird als erfor­der­lich ange­se­hen, “um die Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung und somit den GdS beur­tei­len zu können”. Inso­weit stellt die Doku­men­ta­ti­on der Blut­zu­cker­wer­te und Insulin­do­sen im Ver­wal­tungs- und Gerichts­ver­fah­ren allein ein Beweis­mit­tel dar, ohne dass mit einem Fehlen der Doku­men­ta­ti­on eine Ent­bin­dung von den Amts­er­mitt­lungs­pflich­ten (§ 20 SGB X; § 103 SGG) ein­her­geht.

29

b) Daraus ergibt sich für die Bemes­sung des Einzel-GdB bezüg­lich des Dia­be­tes mel­li­tus der Klä­ge­rin im Ein­zel­nen fol­gen­des Bild:

30

aa) Bei Anwen­dung der vor­läu­fi­gen Neu­fas­sung der Nr 26.15 AHP, die ihrem Inhalt nach Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV aF ent­spricht, (für die Zeit vom 1.4.2006 bis 21.7.2010) ist ein Dia­be­tes mel­li­tus unter Insu­lin­the­ra­pie auch in Kom­bi­na­ti­on mit ande­ren blut­zu­cker­sen­ken­den Medi­ka­men­ten, je nach Sta­bi­li­tät der Stoff­wech­sel­la­ge (stabil oder mäßig schwan­kend) mit einem (Einzel-)GdB von 30 bis 40 zu bewer­ten. Ein GdB von 50 ist vor­ge­se­hen, wenn unter Insu­lin­the­ra­pie eine insta­bi­le Stoff­wech­sel­la­ge ein­schließ­lich gele­gent­li­cher schwe­rer Hypo­glyk­ämien besteht.

31

Danach schei­det bei der Klä­ge­rin ein Einzel-GdB von 50 für den Dia­be­tes mel­li­tus aus. Denn das LSG hat bin­dend fest­ge­stellt (§ 163 SGG), dass “aus­ge­präg­te oder schwe­re Hypo­glyk­ämien ver­mie­den werden”. Ebenso fehlt es an Anhalts­punk­ten für eine zusätz­li­che Bewer­tung von häu­fi­gen, aus­ge­präg­ten oder schwe­ren Hypo­glyk­ämien.

32

Es man­gelt indes an hin­rei­chen­den Tat­sa­chen­fest­stel­lun­gen des LSG dazu, ob die Stoff­wech­sel­la­ge der Klä­ge­rin im Sinne der vor­läu­fi­gen Neu­fas­sung der Nr 26.15 AHP als stabil (dann Einzel-GdB 30) oder mäßig schwan­kend (dann Einzel-GdB 40) ein­zu­schät­zen ist. Das LSG hat inso­weit aus­ge­führt, bei der Klä­ge­rin bestehe mit einer “Annä­he­rung an einen Lang­zeit-Blut­zu­cker­wert von 6,0 HbA1c” eine “zufrie­den­stel­len­de” Stoff­wech­sel­la­ge, wobei ein “häu­fi­ger Wech­sel von Hypo- und Hyper­glyk­ämien” auf­tre­te. Damit wird nicht hin­rei­chend deut­lich, ob die Stoff­wech­sel­la­ge nach ärzt­li­cher Beur­tei­lung als “stabil” oder als “mäßig schwan­kend” anzu­se­hen ist. Ent­spre­chen­des gilt hin­sicht­lich der nach Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV nF ab 22.7.2010 maß­geb­li­chen “Güte der Stoff­wech­sel­ein­stel­lung”.

33

bb) Nach den — hier für die Zeit vom 1.4.2006 bis 21.7.2010 maß­geb­li­chen — Grund­sät­zen des erken­nen­den Senats (vgl Urteil vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 10/06 RSozR 4–3250 § 69 Nr 9 RdNr 40) ist bei der Bewer­tung des Einzel-GdB von Dia­be­tes mel­li­tus neben der Ein­stel­lungs­qua­li­tät auch der The­ra­pie­auf­wand zu berück­sich­ti­gen, soweit er sich auf die Teil­ha­be des behin­der­ten Men­schen am Leben in der Gesell­schaft nach­tei­lig aus­wirkt. Der GdB wird rela­tiv nied­rig anzu­set­zen sein, wenn mit gerin­gem The­ra­pie­auf­wand eine aus­ge­gli­che­ne Stoff­wech­sel­la­ge erreicht wird. Mit (in beein­träch­ti­gen­der Weise) wach­sen­dem The­ra­pie­auf­wand und/oder abneh­men­dem The­ra­pie­er­folg (insta­bi­le­rer Stoff­wech­sel­la­ge) wird der GdB höher ein­zu­schät­zen sein. Dabei sind jeweils — im Ver­gleich zu ande­ren Behin­de­run­gen — die Aus­wir­kun­gen auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft in Betracht zu ziehen (BSG Urteil vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 10/06 R — aaO RdNr 40). Für die Zeit ab 22.7.2010 sieht Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV nF eben­falls eine dif­fe­ren­zier­te Berück­sich­ti­gung des The­ra­pie­auf­wan­des bei Dia­be­tes mel­li­tus vor.

34

Diese Grund­sät­ze hat das LSG zwar im Ansatz seiner Ent­schei­dung zugrun­de gelegt. Der erken­nen­de Senat ver­steht den Begriff des zu berück­sich­ti­gen­den The­ra­pie­auf­wan­des jedoch anders als das LSG. Daraus ergibt sich die Not­wen­dig­keit einer ergän­zen­den Sach­ver­halts­auf­klä­rung.

35

(1) Der Begriff “The­ra­pie­auf­wand” im Sinne der Grund­sät­ze der Recht­spre­chung des erken­nen­den Senats vom 24.4.2008 ist weit aus­zu­le­gen. Die Aus­le­gung ori­en­tiert sich an dem Wort­sinn des Begriffs The­ra­pie, der die Gesamt­heit der Maß­nah­men zur Behand­lung einer Krank­heit mit dem Ziel der Wie­der­her­stel­lung der Gesund­heit, der Lin­de­rung der Krank­heits­be­schwer­den und der Ver­hin­de­rung von Rück­fäl­len umfasst (vgl Brock­haus, Die Enzy­klo­pä­die, 20. Aufl 1999, “The­ra­pie”). Denn es geht im Schwer­be­hin­der­ten­recht um die Aus­wir­kun­gen der Funk­ti­ons­be­ein­träch­ti­gun­gen, auf­grund derer der von Krank­heit betrof­fe­ne Mensch nicht mehr die Gesamt­heit der ihm sozial zuge­schrie­be­nen Funk­tio­nen unbe­ein­träch­tigt und unge­fähr­det wahr­neh­men kann, auch wenn diese Aus­wir­kun­gen an sich nur gering­fü­gig sind (vgl zB Urteil vom 9.10.1987 — 9a RVs 5/86BSGE 62, 209, 211 f = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 82; vgl auch Knick­rehm, SGb 2008, 220, 223 f). Sie können sich bei gewis­sen stum­men Erkran­kun­gen allein aus ärzt­li­chen Hand­lungs­an­wei­sun­gen, zB Diät, Ruhe­pau­sen, Scho­nung, ver­kürz­te Arbeits­be­las­tung, Mei­dung bestimm­ter Außen­ein­flüs­se (zB Wit­te­rung, Zug­luft, Nässe) oder Vor­ga­ben zu bestimm­ten Kör­per­hal­tun­gen (zB Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen usw), erge­ben (vgl BSG Urteil vom 6.12.1989 — 9 RVs 3/89 — SozR 3870 § 4 Nr 3 S 14; vgl auch Masuch, Die Beein­träch­ti­gung der Teil­ha­be in der Gesell­schaft, in Fest­schrift 50 Jahre Bun­des­so­zi­al­ge­richt 2004, S 199, 203; Knick­rehm, SGb 2008, 220, 224). Eine eigen­stän­di­ge funk­tio­nel­le Bedeu­tung des The­ra­pie­auf­wands, zB stän­di­ger auf­wen­di­ger Ver­bands­wech­sel (so Kaiser, SGb 2009, 172, 175), ist inso­weit nicht erfor­der­lich.

36

(2) Aller­dings muss der The­ra­pie­auf­wand zur Erzie­lung des The­ra­pie­er­folgs (sta­bi­le­re Stoff­wech­sel­la­ge) medi­zi­nisch not­wen­dig sein (BSG Urteil vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 10/06 R — aaO, RdNr 39 f), um bei der GdB-Bewer­tung berück­sich­tigt zu werden. Eine ärzt­li­che Ver­ord­nung kann als Nach­weis für die medi­zi­ni­sche Indi­ka­ti­on dienen, ist aber (zB im Falle der Selbst­the­ra­pie) nicht Vor­aus­set­zung für die Aner­ken­nung eines krank­heits­be­ding­ten The­ra­pie­auf­wands. Erfor­der­lich ist aller­dings, dass die The­ra­pie tat­säch­lich durch­ge­führt wird (vgl etwa BSG Urteil vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 6/06 R — juris RdNr 22).

37

(3) Zudem ist nach den Grund­sät­zen der Recht­spre­chung des erken­nen­den Senats (Urteil vom 24.4.2008 — B 9/9a SB 10/06 R — aaO RdNr 40) nur der­je­ni­ge The­ra­pie­auf­wand bei der GdB-Bewer­tung zu berück­sich­ti­gen, der sich nach­tei­lig auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft iS des § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX aus­wirkt. Dies gilt ent­spre­chend für die ab 22.7.2010 gel­ten­de Rege­lung in Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV nF.

38

Die mög­li­che Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung durch medi­zi­nisch not­wen­di­gen The­ra­pie­auf­wand beruht hier­bei nicht auf gesund­heit­li­chen Funk­ti­ons­be­ein­träch­ti­gun­gen, die beim Dia­be­tes mel­li­tus auf­grund der Hypo­glyk­ämie­nei­gung und der Insta­bi­li­tät der Stoff­wech­sel­la­ge vor­lie­gen können und eben­falls Grund­la­ge der GdB-Bewer­tung sind, son­dern auf the­ra­pie­be­ding­ten Ein­schrän­kun­gen in der Lebens­füh­rung bzw bei der Gestal­tung des Tages­ab­laufs. Inso­weit kann zur Kon­kre­ti­sie­rung der Grund­sät­ze der Recht­spre­chung des erken­nen­den Senats auch für die Zeit vor dem 22.7.2010 auf die neuen Bewer­tungs­grund­sät­ze in Teil B Nr 15.1 Anl Vers­MedV nF zurück­ge­grif­fen werden, nach denen die inso­weit bei der GdB-Bewer­tung zu berück­sich­ti­gen­den Teil­ha­be­stö­run­gen unter dem Ober­be­griff “Ein­schnit­te in die Lebens­füh­rung” zusam­men­ge­fasst sind (vgl ins­be­son­de­re Teil B Nr 15.1 Abs 3 Anl Vers­MedV nF). Obgleich die Ände­rung der Anl Vers­MedV formal keine Rück­wir­kung ent­fal­tet und Gerich­te und Ver­wal­tung für den Zeit­raum bis 21.7.2010 nicht bindet, ist ihr Inhalt als anti­zi­pier­tes Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten bedeut­sam. Diese Bewer­tungs­grund­sät­ze sind näm­lich vom “Ärzt­li­chen Sach­ver­stän­di­gen­bei­rat Ver­sor­gungs­me­di­zin” beim BMAS — soweit ersicht­lich — unter Beach­tung der Beson­der­hei­ten der Stoff­wech­sel­krank­heit Dia­be­tes mel­li­tus auf der Grund­la­ge des aktu­el­len Stands der medi­zi­ni­schen Wis­sen­schaft erstellt worden (vgl hierzu insb Loren­z/M­ar­tin/­Doht-Rüge­mer, Med­Sach 2010, 187, 190 ff). All­ge­mein ist es zur Ver­mei­dung sach­frem­der Erwä­gun­gen gebo­ten, sich an all­ge­mein gül­ti­gen Bewer­tungs­kri­te­ri­en zu ori­en­tie­ren, wie sie in den AHP bzw der Anl Vers­MedV auf­ge­führt sind (vgl Urteil vom 9.10.1987 — 9a RVs 5/86BSGE 62, 209, 213 = SozR 3870 § 3 Nr 26 S 84). Nach der Begrün­dung zur Ver­ord­nungs­än­de­rung (BR-Drucks 285/10 S 3 zu Nr 2) zeigen sich Ein­schnit­te in die Lebens­füh­rung zB bei der Pla­nung des Tages­ab­laufs, der Gestal­tung der Frei­zeit, der Zube­rei­tung der Mahl­zei­ten, der Berufs­aus­übung und der Mobi­li­tät.

39

Die Inten­si­tät der Ein­schnit­te in die Lebens­füh­rung und damit der nach­tei­li­gen Aus­wir­kun­gen auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft ist nach Auf­fas­sung des Senats davon abhän­gig, ob der The­ra­pie­auf­wand aus medi­zi­ni­schen Grün­den nach Ort, Zeit oder Art und Weise fest­ge­legt ist, mit einem Ver­nach­läs­si­gen der Maß­nah­men gra­vie­ren­de gesund­heit­li­che Folgen ein­her­ge­hen können oder die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft in ande­ren Lebens­be­rei­chen wegen des zeit­li­chen Umfangs der The­ra­pie erheb­lich beein­träch­tigt wird. Je fle­xi­bler die Durch­füh­rung der not­wen­di­gen The­ra­pie gehand­habt werden kann, desto gerin­ger fällt die Inten­si­tät der Teil­ha­be­stö­rung aus. Dies gilt auch für den Fall, dass ein (gele­gent­li­ches) Aus­set­zen der The­ra­pie keine gra­vie­ren­den Aus­wir­kun­gen auf den Gesund­heits­zu­stand des Betrof­fe­nen hat bzw durch andere Behand­lungs­me­tho­den selbst­be­stimmt kom­pen­siert werden kann (zB Regu­lie­rung der Insu­lin­ga­be).

40

Im vor­lie­gen­den Fall ist ins­be­son­de­re die Berück­sich­ti­gung von Sport bei der GdB-Bewer­tung strei­tig. Nach Auf­fas­sung des erken­nen­den Senats ist medi­zi­nisch not­wen­di­ge sport­li­che Betä­ti­gung bei der Bemes­sung des GdB grund­sätz­lich nicht als The­ra­pie­auf­wand, der die Teil­nah­me am Leben in der Gesell­schaft beein­träch­tigt, zu werten, wenn sie sich im Rahmen einer all­ge­mein emp­foh­le­nen gesun­den Lebens­wei­se bewegt. Dafür sind fol­gen­de Erwä­gun­gen maß­ge­bend:

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Wenn sich der medi­zi­nisch not­wen­di­ge The­ra­pie­auf­wand seiner Art und Weise nach nicht als krank­heits­spe­zi­fisch dar­stellt (zB Blut­zu­cker­wert­mes­sun­gen, Insu­lin­in­jek­tio­nen), son­dern all­ge­mein einer gesun­den Lebens­wei­se ent­spricht (zB Ernäh­rungs­ver­hal­ten, kör­per­li­che Akti­vi­tät), ist grund­sätz­lich davon aus­zu­ge­hen, dass eine solche Lebens­füh­rung zumut­bar in den Tages­ab­lauf ein­be­zo­gen und unter wer­ten­der Betrach­tung nicht als nach­tei­li­ge Aus­wir­kung auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft iS des § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX ange­se­hen werden kann. Inso­weit sind Men­schen mit und ohne Behin­de­rung in glei­cher Weise dafür ver­ant­wort­lich, durch eine gesun­de Lebens­wei­se den Ein­tritt von Krank­heit und Behin­de­rung zu ver­mei­den bzw ihre Folgen zu über­win­den oder zu ver­rin­gern (vgl zB § 1 Satz 2 SGB V; dazu auch Luthe, SGb 2009, 569, 574). Hält sich der medi­zi­nisch not­wen­di­ge The­ra­pie­auf­wand in dem Rahmen dessen, was auch Men­schen ohne Behin­de­rung all­ge­mein als gesun­de Lebens­wei­se emp­foh­len wird, kann er mithin im All­ge­mei­nen nicht bei der Bemes­sung des GdB (hier von Dia­be­tes mel­li­tus) berück­sich­tigt werden. Diese Wer­tung ent­spricht auch der aus­drück­li­chen und in der Begrün­dung zur Zwei­ten Ver­ord­nung zur Ände­rung der Vers­MedV vom 14.7.2010 wie­der­ge­ge­be­nen Fest­stel­lung des “Ärzt­li­chen Sach­ver­stän­di­gen­bei­rats Ver­sor­gungs­me­di­zin” (BR-Drucks 285/10 S 3 zu Nr 2); danach soll eine gesun­de Lebens­füh­rung — auch wenn sie zeit­auf­wän­dig rea­li­siert wird — zu keiner Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung führen.

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Zur ori­en­tie­ren­den Klä­rung der Abgren­zung eines bei der GdB-Bewer­tung zu berück­sich­ti­gen­den The­ra­pie­auf­wands von einer grund­sätz­lich nicht die Teil­ha­be beein­träch­ti­gen­den gesun­den Lebens­füh­rung hat der Senat die Aus­kunft des BMAS vom 12.11.2010 ein­ge­holt, der ua die evi­denz­ba­sier­te Leit­li­nie der Deut­schen Dia­be­tes Gesell­schaft (DDG) “Kör­per­li­che Akti­vi­tät und Dia­be­tes mel­li­tus” aus Okto­ber 2008, Infor­ma­tio­nen der Deut­schen Gesell­schaft für Ernäh­rung eV (DGE) und das im Rahmen der Gesund­heits­be­richt­erstat­tung des Bundes im Juli 2005 erschie­ne­ne The­men­heft 26 “Kör­per­li­che Akti­vi­tät”, her­aus­ge­ge­ben vom Robert-Koch-Insti­tut (RKI) in Zusam­men­ar­beit mit dem Sta­tis­ti­schen Bun­des­amt (abruf­bar unter www.rki.de), bei­gele­gen haben.

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Kör­per­li­che Akti­vi­tät, also kör­per­li­che Bewe­gun­gen zur Anhe­bung des Ener­gie­ver­brauchs über den Grund­um­satz (vgl Gesund­heits­be­richt­erstat­tung des Bundes, The­men­heft 26, S 7), gehört danach in beson­de­rem Maße zu einer gesun­den Lebens­wei­se und hin­dert die Ent­wick­lung unter­schied­li­cher gesund­heit­li­cher Risi­ko­fak­to­ren (zB Blut­hoch­druck, Über­ge­wicht). Sie för­dert zugleich die kör­per­li­che Fit­ness und das phy­si­sche und men­ta­le Wohl­be­fin­den und kann sich posi­tiv auf andere gesund­heits­re­le­van­te Ver­hal­tens­mus­ter (zB Rau­chen, Ernäh­rung) aus­wir­ken. Dem Sport als Unter­grup­pe der kör­per­li­chen Akti­vi­tät, für den ins­be­son­de­re kör­per­li­che Leis­tung, Wett­kampf und Spaß an der Bewe­gung typisch sind, werden zudem anti-depres­si­ve und all­ge­mein stim­mungs­ver­bes­sern­de Effek­te zuge­schrie­ben sowie wei­te­re gesund­heits­re­le­van­te Wir­kun­gen, wie zB die Stär­kung des Selbst­ver­trau­ens (vgl Gesund­heits­be­richt­erstat­tung des Bundes, The­men­heft 26, S 7). Als Anhalts­punkt für einen Erwach­se­nen all­ge­mein emp­foh­le­ne gesun­de Lebens­wei­se ist den Unter­la­gen zu ent­neh­men, dass mode­ra­te kör­per­li­che Akti­vi­tät (zB Rad­fah­ren, stram­mes Spa­zie­ren­ge­hen) min­des­tens 30 Minu­ten an den meis­ten, am besten allen Tagen der Woche aus­ge­übt werden sollte; für einen opti­ma­len gesund­heit­li­chen Nutzen soll­ten Erwach­se­ne zusätz­lich drei Aus­dau­er­trai­nings­ein­hei­ten (Dauer 20 bis 60 Minu­ten je Ein­heit) und zwei kraft- und beweg­lich­keits­ori­en­tier­te Trai­nings­ein­hei­ten je Woche aus­üben (vgl Gesund­heits­be­richt­erstat­tung des Bundes, The­men­heft 26, S 13).

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Die Bedeu­tung von Sport zur Gesund­heits­vor­sor­ge — im Beson­de­ren für Men­schen mit Behin­de­rung — wird auch durch den Bericht der Bun­des­re­gie­rung über die Lage behin­der­ter Men­schen und die Ent­wick­lung ihrer Teil­ha­be vom 16.12.2004 (BT-Drucks 15/4575) bestä­tigt. Danach nimmt Sport sowohl in der Reha­bi­li­ta­ti­on als auch bei der Teil­ha­be von Men­schen mit Behin­de­rung eine her­aus­ra­gen­de Rolle ein. In der medi­zi­ni­schen Reha­bi­li­ta­ti­on dient der Sport als Mittel, um die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft zu ermög­li­chen; Reha­bi­li­ta­ti­ons­sport ver­folgt inso­weit das Ziel, Aus­dau­er und Kraft zu stär­ken, Koor­di­nie­rung und Fle­xi­bi­li­tät zu ver­bes­sern und das Selbst­be­wusst­sein der Reha­bi­li­tan­den zu fes­ti­gen (BT-Drucks 15/4575 S 39 f, 59). Aber auch bei der Gestal­tung der Frei­zeit von Men­schen mit Behin­de­rung ist Sport — ggf mit einem Über­gang vom Reha­bi­li­ta­ti­ons- zum Brei­ten­sport — unter inte­gra­ti­ven Gesichts­punk­ten beson­ders wich­tig und kann ein neues Lebens­wert­ge­fühl bei der Erbrin­gung sport­li­cher Leis­tun­gen ver­mit­teln (BT-Drucks 15/4575 S 150). Die Dop­pel­funk­ti­on von Sport als Mittel der Reha­bi­li­ta­ti­on bzw der För­de­rung einer unab­hän­gi­gen Lebens­füh­rung und zugleich der Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft kommt beson­ders beim Sport in der Gruppe zum Tragen (vgl auch § 44 Abs 1 Nr 3 SGB IX), gerade wenn Men­schen mit und ohne Behin­de­rung gemein­sam gleich­be­rech­tigt Sport trei­ben. Ins­be­son­de­re die Sport­art Nordic Wal­king wird mitt­ler­wei­le behin­de­rungs­spe­zi­fisch ange­bo­ten (vgl BT-Drucks 15/4575 S 150).

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Unter Berück­sich­ti­gung dieser Gege­ben­hei­ten ist davon aus­zu­ge­hen, dass sport­li­che Betä­ti­gung, soweit sie zur Behand­lung einer Krank­heit medi­zi­nisch not­wen­dig ist, in der Regel keine nach­tei­li­gen Aus­wir­kun­gen auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft iS des § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX hat. Nur bei Hin­zu­tre­ten beson­ders ein­schrän­ken­der Umstän­de kann im Ein­zel­fall eine bei der Bemes­sung des GdB zu berück­sich­ti­gen­de Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung ange­nom­men werden, wenn die medi­zi­nisch not­wen­di­ge sport­li­che Betä­ti­gung als Ein­schnitt in die Lebens­füh­rung die Gestal­tung des Tages­ab­laufs in beson­de­rem Maße prägt, weil sie zB aus medi­zi­ni­schen Grün­den nach Ort, Zeit oder Art und Weise fest­ge­legt ist oder ihrem Umfang nach erheb­lich über das Maß einer auch Men­schen ohne Behin­de­rung emp­foh­le­nen gesun­den Lebens­wei­se hin­aus­geht.

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(4) Gemes­sen an diesen Kri­te­ri­en kann auf­grund der der­zeit vor­lie­gen­den Tat­sa­chen­fest­stel­lun­gen des LSG nicht abschlie­ßend beur­teilt werden, inwie­fern bei der Klä­ge­rin medi­zi­nisch not­wen­di­ger The­ra­pie­auf­wand zu Ein­schnit­ten in ihrer Lebens­füh­rung und damit zu nach­tei­li­gen Aus­wir­kun­gen auf die Teil­ha­be am Leben in der Gesell­schaft iS des § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX führt. Im Hin­blick auf die von der Klä­ge­rin betrie­be­ne sport­li­che Betä­ti­gung hat das LSG fest­ge­stellt, dass die Klä­ge­rin “gehal­ten ist, täg­lich Sport zu trei­ben”, sich “der hier­für betrie­be­ne Auf­wand” auf “andert­halb Stun­den am Tag” beläuft und der “Umstand, dass die Klä­ge­rin Sport in diesem Umfang betreibt, ( …) unmit­tel­bar zu dem The­ra­pie­er­folg” mit bei­trägt. Diesen Fest­stel­lun­gen kann nicht mit hin­rei­chen­der Klar­heit ent­nom­men werden, ob die von der Klä­ge­rin betrie­be­ne sport­li­che Betä­ti­gung von regel­mä­ßig andert­halb Stun­den Nordic Wal­king je Tag nach Art und Umfang medi­zi­nisch not­wen­dig ist. Ins­be­son­de­re fragt sich, ob auch andere kör­per­li­che Akti­vi­tä­ten und/oder gerin­ge­re Zeit­span­nen in medi­zi­ni­scher Hin­sicht aus­rei­chen würden, um den ange­streb­ten The­ra­pie­er­folg (sta­bi­le­re Stoff­wech­sel­la­ge) zu errei­chen. Im Übri­gen ist auch nicht fest­ge­stellt worden, inwie­weit die sport­li­che Betä­ti­gung der Klä­ge­rin ihrem Umfang nach über das Maß einer all­ge­mein emp­foh­le­nen gesun­den Lebens­wei­se hin­aus­geht. Zur Bewer­tung der nach­tei­li­gen Aus­wir­kun­gen durch den sons­ti­gen The­ra­pie­auf­wand der Klä­ge­rin (Kon­trol­le der Blut­zu­cker­wer­te, Insu­lin­in­jek­tio­nen sowie Ein­hal­tung einer “star­ren” Diät) fehlt es an beru­fungs­ge­richt­li­chen Fest­stel­lun­gen dazu, inwie­weit damit Ein­schnit­te in die Lebens­füh­rung, ins­be­son­de­re bei der Gestal­tung des Tages­ab­laufs, ver­bun­den sind. Hin­ge­gen ist nicht — wie das LSG annimmt — darauf abzu­stel­len, ob dieser The­ra­pie­auf­wand “regel­mä­ßig Dia­be­ti­ker unter Insu­lin­the­ra­pie” trifft.

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5. Da nach alle­dem offen ist, ob bei der Klä­ge­rin neben dem Einzel-GdB von 20 für die Seh­be­hin­de­rung ein Einzel-GdB von 30 oder 40 für den Dia­be­tes mel­li­tus anzu­set­zen ist, kann auch die vom LSG vor­ge­nom­me­ne Bil­dung eines Gesamt-GdB von 50 keinen Bestand haben. Denn Einzel-GdB von 20 und 30 würden grund­sätz­lich nicht aus­rei­chen, um einen GdB von 50 anzu­neh­men.

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Die danach noch feh­len­den Tat­sa­chen­fest­stel­lun­gen kann der erken­nen­de Senat im Revi­si­ons­ver­fah­ren nicht nach­ho­len (vgl § 163 SGG). Daher ist das ange­foch­te­ne Urteil auf­zu­he­ben und die Sache zur erneu­ten Ver­hand­lung und Ent­schei­dung an das LSG zurück­zu­ver­wei­sen (vgl § 170 Abs 2 Satz 2 SGG).

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Das LSG wird auch über die Kosten des Revi­si­ons­ver­fah­rens zu ent­schei­den haben.