Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 19.10.1999 Az.: L 7 P 29/99
Tatbestand:
Die Klägerin begehrt von der beklagten Pflegekasse für die Zeit ab 24.01.1997 Pflegegeld wegen häuslicher Pflege nach der Pflegestufe I.
Die am 1994 geborene Klägerin leidet an einem insulinpflichtigen Diabetes mellitus, der erstmals im November 1996 festgestellt wurde. Auf den Antrag vom 24.01.1997 auf Gewährung von Pflegegeld wegen häuslicher Pflege ließ die Beklagte ein Gutachten ihres Medizinischen Dienstes — MDK ‑erstatten. Nach einem Hausbesuch durch die Pflegefachkraft am 15.04.1997 kam Dr. im Gutachten vom 27.06.1997 zum Ergebnis, im Wesentlichen entspreche der Hilfebedarf dem Alter der damals zweieinhalbjährigen Klägerin. Lediglich bei der Nahrungsaufnahme müsse die Klägerin angehalten werden, die ärztlich vorgegebene Menge an Speisen zu sich zu nehmen. Diese Kontrolle falle 6 x täglich an, wodurch aber nicht die zur Begründung der Pflegestufe I maßgebliche Zeit von mehr als 45 Minuten erreicht werde. Vierteljährlich müsse die Klägerin sich in der Diabetesambulanz der Kinderklinik des Krankenhauses Memmingen vorstellen. Im Rahmen der hauswirtschaftlichen Versorgung falle ein diätisch bedingter Mehrbedarf an; zweimal täglich müsse der Klägerin Insulin gespritzt werden. Die letztgenannten Verrichtungen könnten jedoch keinen relevanten Pflegebedarf begründen, weil sie zum einen der hauswirtschaftlichen Versorgung (Diät) und zum anderen der Behandlungspflege (Insulinspritzen) zugeordnet werden müssten. Mit Bescheid vom 16.09.1997 lehnte die Beklagte darauf gestützt die Gewährung von Pflegegeld ab. Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 14.07.1998).
Dagegen hat die Klägerin beim Sozialgericht Augsburg Klage erhoben. Dieses hat ein Gutachten des Facharztes für innere Medizin Dr. eingeholt. Der Sachverständige ist am 15.11. 1998 zum Ergebnis gekommen, im Bereich der Körperpflege bestehe über das altersgemäße Ausmaß die Notwendigkeit infolge der Zuckerkrankheit die Füße, die Insulininjektionsstellen am Bauch und am Oberschenkel
sowie die Blutentnahmestellen an den Fingern zu kontrollieren. Im Bereich der Ernährung müssten kohlehydrathaltige Bestandteile einer Mahlzeit abgewogen und den ärztlichen Vorschriften entsprechend portioniert werden. Im Übrigen könne die Klägerin selbständig essen. Der spontane Appetit entspreche aber häufig nicht der berechneten, medizinisch notwendigen Menge, so dass die Klägerin ermuntert und ermahnt bzw. gezwungen werden müsse, den Teller leer zu essen. Im Bereich der Mobilität sei im Vergleich zu gesunden, gleichaltrigen Kindern keine Hilfe in erhöhtem Maß notwendig. Vierteljährlich müsse die Klägerin zur Diabetikerambulanz im Klinikum Memmingen und einmal pro Monat zum Kinderarzt nach Memmingen gebracht werden. Im Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung falle ein erhöhter Bedarf wegen des Einkaufens diabetikergeeigneter Lebensmittel an. Für das Portionieren von drei Haupt- und zwei Zwischenmahlzeiten seien 15 Minuten, für die Beaufsichtigung während der Nahrungsaufnahme mit Anleitung und Motivation zum vollständigen Aufessen seien für fünf Mahlzeiten insgesamt 70 Minuten und für das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung anläßlich des vierteljährlichen Termins in der Diabetikerambulanz und anläßlich des monatlichen Termins beim Kinderarzt im Durchschnitt jeweils 3 Minuten anzusetzen. Insgesamt betrage der Hilfeaufwand 88 Minuten. Das Sozialgericht hat im Termin zur mündlichen Verhandlung am 12.07.1999 die Mutter der Klägerin als Zeugin vernommen. Sie hat im Wesentlichen die Anzahl der von Dr. beschriebenen Arztbesuche bestätigt und angegeben, in Verbindung mit diesen würden Wartezeiten von durchschnittlich 30 Minuten anfallen. Dreimal täglich müsse sie ihrer Tochter Insulin spritzen. Zusätzlich sei es
erforderlich den Blutzucker zu messen. Die Speisen bereite sie entsprechend der zugelassenen Broteinheiten zu. Das Hauptproblem bestehe darin, daß die Klägerin im Gegensatz zu ihrer jüngeren Schwester ständig ermahnt werden müsse, die zubereitete und portionierte Nahrung aufzuessen. Sie schätze die Zeit für die Ermahnung während der drei Hauptmahlzeiten mit insgesamt 20 Minuten und während der zwei Zwischenmahlzeiten mit insgesamt 5 Minuten ein.
Mit Urteil vom 12.07.1999 hat das Sozialgericht die Beklagte unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, der Klägerin auf ihren Antrag vom 24.01.1997 Leistungen nach der Pflegestufe I bis längstens zum Schuleintritt zu erbringen. Zur Begründung hat es darauf abgestellt, dass zwar das Ausrechnen von Broteinheiten und die Vorbereitung der Nahrung einschließlich des diätischen Kochens in den Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung falle, was jedoch nicht für die unmittelbare Portionierung und Zuteilung der bereits zubereiteten
Speisen gelte. Hierfür seien jeweils 2 bis 3 Minuten anzusetzen. Entsprechend den Ausführungen des Sachverständigen Dr. und den glaubhaften Angaben der Mutter der Klägerin seien zur Sicherstellung der Nahrungsaufnahme eine zeitintensive Überwachung und Motivation der Klägerin
erforderlich. Hierfür seien insgesamt täglich 70 Minuten anzusetzen. Dies sei nicht im Sinne eines allgemeinen Aufsichts- und Überwachungsbedarfs zu verstehen, sondern falle unmittelbar im Zusammenhang mit der Nahrungsaufnahme an. Darüber hinaus benötige die Klägerin Hilfe im Bereich der Mobilität. Zwölfmal pro Jahr müsse der Kinderarzt und viermal pro Jahr die Diabetikerambulanz
aufgesucht werden. Die Begleitung der Klägerin hierbei sei als Hilfebedarf im Sinne der §§ 14,15 des XI.Buchs des Sozialgesetzbuchs — SGB XI — zu verstehen. Damit seien die Voraussetzungen der Pflegestufe I erfüllt. Leistungen seien allerdings längstens bis zum Schuleintritt zu gewähren,
weil ab diesem Zeitpunkt damit gerechnet werden könne, dass die Einsichtsfähigkeit der kindlichen Klägerin soweit fortgeschritten sein werde, dass auf die Förderung der Eltern verzichtet werden könne. Dagegen hat die Beklagte Berufung eingelegt. Zur Begründung hat sie vorgetragen, das Portionieren der Speisen gehöre zu den hauswirtschaftlichen Verrichtungen. Die Begleitung zu Arztbesuchen sei kein maßgeblicher Hilfebedarf i.S. der §§ 14,15 SGB XI, weil dieser nicht wenigstens wöchentlich anfalle. Das bloße Ermahnen beim Essen könne höchstens mit fünfmal 5 Minuten, insgesamt 25 Minuten, angesetzt werden, weil die beim Essen anwesende Mutter der Klägerin daneben andere Verrichtungen, wie die eigene Nahrungsaufnahme, vornehmen könne. Im Übrigen würde dabei lediglich Hilfe bei einer Verrichtung benötigt, so dass auch aus diesem Grund die Voraussetzungen zur Gewährung von Pflegegeld nicht erfüllt würden.
Die Klägerin hat die von ihr zunächst eingelegte Anschlussberufung wieder zurückgenommen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 12.07.1999 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 16.09.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14.07.1998 abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 12.07.1999 zurückzuweisen.
Im Übrigen wird zur Ergänzung des Sachverhalts hinsichtlich der weiteren Einzelheiten gemäß § 136 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz — SGG — auf den Inhalt der Aktenheftung der Beklagten sowie der Gerichtsakten erster und zweiter Instanz Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Berufung der Beklagten ist zulässig (§§ 143,151 SGG) und auch begründet.
Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts hat die Klägerin keinen Anspruch auf Gewährung von Pflegegeld wegen häuslicher Pflege gemäß §§ 14,15 Abs.1 Nr.1 und Abs.3 Nr.1 SGB XI. Der bei der Klägerin anfallende Hilfebedarf im Bereich der Grundpflege erreicht nicht das dort festgelegte Ausmaß von mehr als 45 Minuten täglich im Wochendurchschnitt. Nach § 14 Abs.1 SGB XI sind pflegebedürftig im Sinne dieses Gesetzes solche Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer zumindest in erheblichem Maße der Hilfe bedürfen. Berücksichtigungsfähig ist in diesem Zusammenhang allein der Umfang des Pflegebedarfs bei den gewöhnlich und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen, die Absatz 4 dieser Vorschrift im Bereich der Körperpflege, Ernährung und Mobilität sowie im Bereich der hauswirtschaftlichen
Versorgung nennt. Darüber hinaus ist im Falle der kindlichen Klägerin darauf abzustellen, ob sie wegen ihrer Erkrankung im Vergleich zu gesunden, gleichaltrigen Kindern einen Mehrbedarf an Pflege hat. Nach den Feststellungen des MDK und des Dr. leidet die Klägerin an insulinpflichtigem Diabetes. Durch diese Erkrankung ist sie im Bereich der Mobilität in keiner Weise beeinträchtigt.
Ebensowenig liegt eine geistige Retadierung vor, die einen besonderen über das altersgemäße Ausmaß hinausgehenden Hilfebedarf begründen würde. Die Klägerin ist jedoch wegen ihrer Erkrankung darauf angewiesen, eine bestimmte Diät gewissenhaft einzuhalten. Insbesondere ist die Nahrung auf Broteinheiten abzustellen. Die jeweilige Mahlzeit muss nicht nur berechnet, abgewogen und zusammengestellt, sondern auch entsprechend portioniert werden. Nach den Ausführungen des Bundessozialgerichts — BSG — in den Urteilen vom 19.02.1998 (Az.: B 3 P 11/97 R) und 17.06.1999 (Az.: B 3 P 10/98 R) fällt die Tätigkeit des Berechnens, Abwiegens, Zusammenstellens und Zubereitens der Speisen der für diabeteserkrankte Personen erforderlichen Diät unter die Verrichtung Kochen. Sie ist damit dem Bereich der hauswirtschaftlichen Versorgung zuzuordnen und nicht der Grundpflege. Etwas anderes gilt, soweit die Klägerin beaufsichtigt und angehalten werden muss, die vorgegebene Nahrung zu sich zu nehmen. In diesem Zusammenhang hat das BSG im Urteil vom 29.04.1999 (Az.: B 3 P 12/98 R) hervorgehoben, bei einem Kind bestehe auch dann ein relevanter Hilfebedarf, wenn es zum Essen angehalten werden müsse, weil bei ihm die Einsichtsfähigkeit dafür fehle, dass es aus Gesundheitsgründen notwendig sei, Widerwillen erregende Speisen oder Speisen in großen Mengen über den Appetit hinaus einzunehmen. Während bei einem Kleinkind die Einhaltung der erforderlichen überhöhten Nahrungsmittelzufuhr angesichts krankheitsbedingter Appetitlosigkeit ständiger Überwachung und Kontrolle bedürfe, entwickle ein Jugendlicher zunehmend Einsicht für die Notwendigkeit dieser Maßnahmen und bedürfe schließlich keiner fremden Hilfe mehr. Insoweit sind die Erwägungen des Sozialgerichts wohl zutreffend, als es einen solchen Hilfebedarf bei der Klägerin nur bis zu ihrer Einschulung angenommen hat. Jedoch reicht der hiernach relevante Hilfebedarf zum einen nicht aus, die im Gesetz vorgegebene Mindestzeit von mehr als 45 Minuten auszufüllen und zum anderen ist keine Hilfe für eine weitere Verrrichtung im Bereich der Grundpflege notwendig, was noch auszuführen ist. Mit zutreffendenGründen hat die Beklagte darauf hingewiesen, dass ein ledigliches Anleiten und Ermuntern während der drei Hauptmahlzeiten und der zwei Nebenmahlzeiten nicht die volle Zeit der Nahrungsaufnahme umfasst und es der Pflegeperson erlaubt, nebenher andere Verrichtungen zu erledigen. Es ist zwar
eine medizinische Frage, festzustellen, ob aus gesundheitlichen Gründen eine solche Anleitung und Kontrolle notwendig ist, der hierfür erforderliche Zeitumfang bedarf jedoch der richterlichen Einschätzung gemäß § 287 Zivilprozeßordnung — ZPO -. Abgesehen von der Tatsache, dass die Klägerin zum Antragszeitpunkt erst zwei Jahre alt war und zum jetzigen Zeitpunkt knapp fünf Jahre alt ist, sich also in einem Alter befindet, in dem auch ein gesundes, gleichaltriges Kind bei der Mahlzeit üblicherweise nicht unkontrolliert bleibt, kann der Zeitaufwand für die Ermahnung und Kontrolle nicht mit der Gesamtdauer des Essensvorgangs gleichgesetzt werden. Angemessen erscheint ein Zeitaufwand von fünfmal fünf Minuten im Tagesdurchschnitt, wodurch die notwendige Grenze des maßgeblichen Hilfebedarfs von mehr als 45 Minuten nicht überschritten wird.
Darüber hinaus bedarf die Klägerin keiner weiteren Hilfe bei einer im Katalog des § 14 Abs.4 SGB XI genannten Verrichtung es Grundpflegebereichs. Entgegen der Auffassung des Sozialgerichts ist der zeitliche Aufwand für die Begleitung bei der vierteljährlich einmal anfallenden Fahrt zur Diabetikerambulanz und zu dem einmal pro Monat anfallenden Besuch beim Kinderarzt nicht als Hilfe beim Verlassen und Aufsuchen der Wohnung berücksichtigungsfähig. Denn das Gesetz stellt in § 15 Abs.3 SGB XI mit hinreichender Deutlichkeit klar, dass für die Bemessung des für die Pflege erforderlichen Zeitaufwands auf die Woche abzustellen ist. Aus dem gesamten in der Woche anfallenden Pflegeaufwand ist der Tagesdurchschnitt zu ermitteln. Dies schließt es aus, bei der Feststellung des zeitlichen Pflegebedarfs auch Verrichtungen
einzubeziehen, die seltener als mindestens einmal wöchentlich anfallen (so BSG in Urteil vom 29.04.1999 a.a.O.). Der Frage, ob eine Begleitung zu Arztbesuchen auch bei gesunden Kindern im Alter zwischen zwei und fünf Jahren die Regel ist, brauchte der Senat bei dieser Konstellation
nicht weiter nachzugehen. Damit steht fest, dass ausschließlich die Kontrolle und Anleitung bei der Nahrungsaufnahme einen relevanten Pflegebedarf begründet. Die Voraussetzungen des § 15 Abs.1Nr.1 SGB XI sind nicht erfüllt, wonach für wenigstens zwei Verrichtungen mindestens einmal täglich eine Hilfe notwendig sein muß. Nach den Entscheidungen des BSG vom 24.06.1998 (Az.: B 3 P
1/97 R) und vom 17.06.1999 (B 3 P 10/98) ist das Erfordernis der Hilfe bei wenigstens zwei Verrichtungen kein gesetzgeberisches Versehen. Vielmehr lässt sich aus dem Gesetzgebungsverfahren erkennen, dass ursprünglich mindestens drei Verrichtungen für notwendig erachtet wurden und schließlich im Vermittlungsausschuß auf zwei Verrichtungen gesenkt wurden. Dies verbietet es, eine andere Interpretation vorzunehmen. Im hier zu entscheidenden Fall wird weder die Vorgabe eines mehr als 45 minütigen täglichen Hilfebedarfs, noch die Voraussetzung des Hilfebedarfs bei wenigstens zwei Verrichtungen erfüllt. Damit steht fest, dass der Klägerin kein Anspruch auf
Gewährung von Pflegegeld wegen häuslicher Pflege nach den §§ 37,14,15 SGB XI zusteht. Auf die Berufung der Beklagten war das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 12.07.1999 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid vom 16.09.1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.07.1998 abzuweisen.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Klärung grundsätzlicher Fragen nicht erforderlich ist und eine Abweichung von der vorgegebenen Rechtsprechung des BSG nicht erkennbar ist (§ 160 Abs. 2 Nrn. 1 und 2 SGG).
ndung allgemeiner
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