SG Potsdam, Urteil vom 10.03.2023, S 7 KR 349/21 (Kosten der OP für Hautentfernung nach Lipsuktion)
Tenor
1. Unter Abänderung des Bescheides vom 22. April 2021 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2021 wird die Beklagte verurteilt, der Klägerin eine postbariatrische Operation der Oberschenkel als Sachleistung zu gewähren. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
2. Die Beklagte hat 30 % der außergerichtlichen Kosten der Klägerin zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung einer postbariatrischen Operation zur Hautstraffung nach einer Fleur-de-lis-Plastik für die Oberarme und Oberschenkel sowie die Brust und die Flanken.
Die 1982 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Nach Durchführung einer bariatrischen Operation reduzierte die Klägerin ihr Gewicht von 160 kg auf 75 kg. In der Folge litt sie im Bereich des Bauches, der Brust, der Oberarme, der Oberschenkel und der Flanken an einem erheblichen Hautüberschuss.
Mit Antrag vom 18. März 2021 begehrte sie von der Beklagten unter Vorlage eines ärztlichen Attestes, in dem bescheinigt wurde, dass es bei der Klägerin zu Hautreizungen, insbesondere beim Sport gekommen sei, die Übernahme der Kosten für eine postbariatrische Hautstraffung in den genannten Bereichen.
Die Beklagte beauftragte den medizinischen Dienst der Krankenkassen (MD) mit einer Stellungnahme. In dem Gutachten vom 21. April 2021 stellte der MD fest, dass kein entstellender Charakter, keine therapieresistenten Hautreizungen und Hautentzündungen nachweisbar bei der Klägerin vorgelegen hätten. Es sei kein dermatologischer Therapieplan vorhanden. Der MD empfahl die Haut trocken zu halten, um entsprechende Hautreizungen zu meiden. Eine körperliche Einschränkung durch den Hautüberschuss sei nicht erkennbar.
Mit Bescheid vom 22. April 2021 wies die Beklagte den Antrag zurück, da eine medizinische Notwendigkeit der beantragten Operation nicht habe bestätigt werden können. Dagegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 23. April 2021 Widerspruch. Zur Begründung legte sie ein Schreiben des E. Klinikums vor, in dem dieses sich für eine Straffungsoperation aussprach, da es bei der Klägerin regelmäßig zu vermehrten Schwitzen und Reizungen durch Reibung in den Hautfalten vor allem beim Sport oder körperlicher Aktivität komme. Aufgrund von rezidivierenden Infekten in der Unterbauchfalte und am Bauchnabel habe das Klinikum die Hautstraffung für medizinisch indiziert gehalten.
In einem weiteren von der Beklagten eingeholten Gutachten des medizinischen Dienstes vom 6. Juli 2021 bestätigte der MD, dass die Reduktion des Gewebeüberschusses im Sinne einer abdominellen Fettschürzenresektion mit Straffung des Schamhügels medizinisch indiziert sei. In den anderen Bereichen würde eine medizinische Indikation jedoch nicht ersichtlich sein.
Die Beklagte erließ daraufhin einen Teilabhilfebescheid am 14. Juli 2021 und gewährte der Klägerin als Sachleistung die Hautstraffungsoperation. Im Übrigen wies sie den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 27. September 2021 als unbegründet zurück.
Die Klägerin hat am 20. Oktober 2021 vor dem Sozialgericht Potsdam Klage erhoben.
Sie ist der Ansicht, dass das Tragen von Kompressionswäsche insbesondere in den Sommermonaten unzumutbar sei. Sie sei immer eine sehr hygienebewusste Frau gewesen, so dass sie die Empfehlungen des MD zur Vermeidung von Hautreizungen als eine Frechheit empfinde. Es sei keine rein kosmetische Operation, sondern es sei der Klägerin um ihre Gesundheit gegangen. Die Pilzinfektionen, die man behandeln könne, würden auch irgendwann auf die Psyche schlagen.
Sie beantragt,
unter Aufhebung des Bescheides der Beklagten vom 22. April 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2021 wird die Beklagte verurteilt, der Klägerin vier postbariatrische Wiederherstellungsoperationen (an Oberschenkeln, Oberarmen, Brust und Thorax) als Sachleistung zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung verweist sie auf die Ausführungen im Widerspruchsbescheid.
Das Gericht hat Befundberichte von Dr. S. und von E. eingeholt. Dr. S. sah eine Funktionsbeeinträchtigung durch den Hautüberschuss nicht für gegeben, hat aber angegeben, dass bei der Klägerin dauerhaft therapieresistente Hautreizungserscheinungen vorliegen würden.
Im gerichtlichen Verfahren beauftragte die Beklagte erneut den medizinischen Dienst. In seinem Gutachten vom 14. Februar 2022 nach Aktenlage hat er festgestellt, dass am Oberschenkel keine immense Volumen- und Umfangvermehrung bei der Klägerin vorliegen würde. Bei den Brüsten ergebe sich kein Anhalt für Schürfwunden oder Hautreizungen. Bei den Armen würden nur kleine unwesentliche Portionen des erschlafften Hautmantels herabhängen. Insgesamt habe die Hauterschlaffung daher keinen Krankheitswert, da weder Hautreizungen noch Hautentzündungen in einem therapieresistenten Umfang vorliegen würden.
Das Gericht hat Beweis durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von Dr. W. eingeholt. Die Gutachterin kam letztlich zu dem Ergebnis, dass durch die Faltenbildung der Haut an den Oberschenkeln und den Flanken es zu Hautreizungen und Funktionsbeeinträchtigungen gekommen ist, sodass diese Krankheitswert haben. Die Haut und das Subkutangewebe an den Flanken beidseits sei erheblich auftragend und unter normaler Kleidung nicht zu kaschieren. Zudem reize der BH und die Arme bei jeder Bewegung. Die Haut an den Oberschenkelinnenseiten sei so weich und faltig, dass es dadurch zu Reizungen innerhalb der Falten komme. Es würde keine messbare Einschränkung der Arm- und Beinbewegung bestehen. Beim Gehen würde es aber zu einem Aneinanderreiben der Oberschenkelinnenseiten insbesondere der Falten kommen.
Ein seitens der Beklagten weiteres eingeholtes Gutachten des medizinischen Dienstes nach tatsächlicher Vorstellung und Begutachtung der Klägerin vom 26. Mai 2023 sah eine Bewegungseinschränkung nicht für gegeben an. Auch seien keine längeren Behandlungen von Hautreizungen bei ihr nachweisbar gewesen.
Ergänzend wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs. 4 SGG) statthaft und auch im Übrigen zulässig; insbesondere wurde sie form- und fristgerecht erhoben (§§ 51, 54 Abs. 2, 57, 78, 87, 90 SGG). Sie ist aus dem im Tenor erkenntlichen Umfang begründet und im Übrigen unbegründet.
Die Klägerin hat lediglich einen Anspruch auf eine postbariatrische Operation zur Hautstraffung der Oberschenkel. Ein Anspruch auf eine Straffung der Flanken, der Oberarme und Brüste besteht nicht. Insoweit ist der Bescheid der Beklagten vom 22. April 2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. September 2021 nur teilweise rechtswidrig.
Rechtsgrundlage für die von der Klägerin beanspruchte Sachleistung ist § 27 Abs. 1 Satz 1 des Fünften Buchs Sozialgesetzbuch (SGB V). Danach haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn diese notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Die Leistungspflicht der GKV setzt mithin das Vorliegen einer Krankheit voraus. Damit wird ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand umschrieben, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht (BSG, Urteil v. 19.10.2004 — B 1 KR 3/03 R, BSGE 93, 252; Nolte in: Kasseler Kommentar, § 27 SGB V Rn. 12 ff. m.w.N.). Auch mittelbar wirkende Therapien werden grundsätzlich vom Leistungsanspruch erfasst, sofern sie ausreichend, wirksam und zweckmäßig sind und den allgemein anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprechen. Wird allerdings im Rahmen einer mittelbar ansetzenden Operation in ein funktionell intaktes Organ eingegriffen und dieses regelwidrig verändert, bedarf es hierfür einer besonderen Rechtfertigung (BSG, Urteil v. 19.02.2003 — Az.: B 1 KR 1/02 R, BSGE 90, 289).
Die Kammer kann unter Würdigung der vorliegenden Gutachten des Medizinischen Dienste, der eingeholten Befundberichte sowie des Sachverständigengutachtens von Dr. W. lediglich einen solchen Leistungsanspruch für die Oberschenkel erkennen. Hier vermag die Kammer eine Funktionsbeeinträchtigung durch die erschlaffte Haut als nachgewiesen ansehen. Diese liegt darin, dass die Haut bei Bewegungen wie Gehen, Sport oder ähnlichem aneinanderreibt. Dies führt zu Schmerzen bei den Bewegungen und zu Hautreizungen. Dies beschrieb die Sachverständige in dem Gutachten. Unter Berücksichtigung der Bilder von den Oberschenkeln im Gutachten hält die Kammer diese Einschätzung für nachvollziehbar. Aufgrund der Menge des Weichteilüberschusses an den Oberschenkeln und der doch deutlich erkennbaren starken Faltenbildung kann auch Kompressionswäsche eine Schmerz- und Hautreizung nicht verhindern. Nachvollziehbar hat die Sachverständige in ihrem Gutachten geschildert, dass durch den geringen Anteil des Unterhautfettgewebe die Falten an den Oberschenkeln nicht aufgepolstert werden und dadurch die Falten bereits in sich reiben und es zu Schmerzen kommt, die durch Kompressionswäsche nicht vermieden werden können. Um der Klägerin dauerhaft eine schmerzarme Bewegung und Sport zu ermöglichen, bedarf es der Hautstraffung.
Bei den anderen von der Klägerin genannten Körperregionen der Brüste, der Oberarme und des Thorax/Flanken kann ein regelwidriger Körperzustand im Sinne der vorbezeichneten Grundsätze nicht festgestellt werden. Eine Hauterschlaffung als solche hat keinen behandlungsbedürftigen Krankheitswert (vgl. LSG Berlin- Brandenburg, Urteil vom 14. Januar 2011 — L 1 KR 197/08, juris Rn. 28, 14; LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 25. März 2010 — L 5 KR 118/08, juris Rn. 26; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23. Februar 2010 — L 11 KR 4761/09, juris Rn. 27, und Hessisches LSG, Urteil vom 21. August 2008 — L 1 KR 7/07, juris Rn. 19; Sächsisches LSG, Urteil vom 30. November 2011 — L 1 KR 149/09, amtlicher Umdruck S. 13; Thüringer LSG, Urteil vom 29. Oktober 2013 — L 6 KR 158/11, juris Rn. 23, und LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17. September 2013 — L 1 KR 625/11, juris Rn. 19 f.).
Entgegen der Ansicht der Sachverständigen sieht die Kammer eine Funktionseinschränkung im Bereich der Flanken durch sogenannte „bra-rolls“ nicht für gegeben. Hier ist das Tragen von Kompressionswäsche zur Verhinderung dieser „bra- rolls“ ausreichend. Dies lässt sich nach Vorlage der Bilder der Klägerin für die Kammer gut erkennen. Hautreizungen an diesen Stellen sind gerade nicht hinreichend durch die Klägerin nachgewiesen.
Nicht plausibel hält die Kammer die Ausführungen der Sachverständigen zu einer Entstellung durch den Hautüberschuss. Des Weiteren kann auch nicht von einer Entstellung der Klägerin durch die derzeit noch gegebenen Hautweichteilüberschüsse ausgegangen werden. Dabei genügt, um eine Entstellung annehmen zu können, nach der Rechtsprechung nicht jede körperliche Anomalität. Für die Annahme einer Regelabweichung im Sinne einer Entstellung ist nicht die subjektive Betrachtungsweise des betroffenen Versicherten, sondern allein ein objektiver Maßstab entscheidend. Es muss eine objektiv erhebliche Auffälligkeit gegeben sein, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier und Betroffenheit hervorruft und damit zugleich erwarten lässt, dass die Betroffene ständig viele Blicke auf sich zieht, zum Objekt besonderer Beachtung anderer wird und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen droht, sodass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist. Danach liegt eine Entstellung erst dann vor, wenn eine körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden ist, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi “im Vorbeigehen” bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt (vgl hierzu Bayerisches LSG, Urteil vom 13. August 2020 – L 4 KR 287/19, juris). Maßgeblich für die Frage der Entstellung ist insoweit der bekleidete Zustand in alltäglichen Situationen (vgl hierzu Hessisches LSG, Urteil vom 15. April 2013 – L 1 KR 119/11, juris). Im Termin zur mündlichen Verhandlung konnte sich die Kammer davon ein Bild machen, dass ein Kaschieren mit normaler Kleidung bei der Klägerin möglich ist und der Hautüberschuss keine entstellende Wirkung hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.