OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 11.07.2024 — 6 A 1476/22 (Polizeidienst: keine Eignung auch mit modernen Hilfsmitteln)
Leitsätze (nichtamtlich)
- Die Polizeidienstvorschrift PDV 300 hat grundsätzliche Bindungswirkung, kann aber gerichtlich überprüft werden
- Die mögliche Tatsache, dass andere Menschen mit Diabetes im Polizeidienst tätig sind, ist für die jeweils im Einzelfall zu treffende Entscheidung unbeachtlich
- Auch bei modernen Hilfsmittel wie rtCGM und Insulinpumpe kann es zu Fehlfunktionen kommen. Es ist daher nicht sicher gewährleistet, dass Hypoglykämien in jeder Einsatzsituation verhindern werden können.
Tenor
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
Die Klägerin trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
Der Streitwert wird auch für das Zulassungsverfahren auf 5.000 Euro festgesetzt.
Gründe
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet.
Die Klägerin stützt den Antrag allein auf den Zulassungsgrund der ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung gemäß § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Zweifel in diesem Sinn sind anzunehmen, wenn der Rechtsmittelführer
- allein aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der männlichen und weiblichen Sprachform verzichtet und gilt die männliche Sprachform für alle Geschlechter -
einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten in Frage stellt.
Vgl. BVerfG, Beschluss vom 7.10.2020 — 2 BvR 2426/17 -, NVwZ 2021, 325 = juris Rn. 34, m. w. N.; BVerwG, Beschluss vom 10.3.2004 — 7 AV 4.03 -, NVwZ-RR 2004, 542 = juris Rn. 9.
Dabei ist innerhalb der Frist des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO in substantiierter Weise darzulegen, dass und warum das vom Verwaltungsgericht gefundene Entscheidungsergebnis ernstlich zweifelhaft sein soll. Diese Voraussetzung ist nur dann erfüllt, wenn das Gericht schon auf Grund des Antragsvorbringens in die Lage versetzt wird zu beurteilen, ob ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils bestehen.
Hiervon ausgehend sind ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der angegriffenen Entscheidung nicht dargelegt.
1. Der mit dem Zulassungsantrag erhobene Vorwurf, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht eine Bindungswirkung der Polizeidienstvorschrift “Ärztliche Beurteilung der Polizeidiensttauglichkeit und der Polizeidienstfähigkeit” (PDV 300) angenommen, ist unberechtigt. Es trifft zwar zu, dass aus dem Umstand, dass eine Erkrankung in der PDV 300 aufgeführt ist, nicht ohne weitere individuelle Prüfung auf die Polizeidienstuntauglichkeit bzw. Polizeidienstunfähigkeit geschlossen werden kann. Vielmehr ist auch dann, wenn eine Erkrankung in der PDV 300 als Merkmal genannt ist, das die Polizeidiensttauglichkeit “grundsätzlich” — hier wohl gebraucht in der Bedeutung von “ausnahmslos”, also offenbar generell und ungeachtet ihrer Schwere und Ausprägung im Einzelfall — ausschließt, dies der gerichtlichen Überprüfung zugänglich und sind die Umstände des jeweiligen Einzelfalls insbesondere darauf in den Blick zu nehmen, ob die Einschätzung auf einer fundierten medizinischen Tatsachenbasis beruht.
Vgl. OVG NRW, Beschluss vom 15.9.2022 — 6 B 994/22 -, IÖD 2023, 20 = juris Rn. 19f. m. w. N.; OVG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 17.1.2024 — 2 A 10587/23.OVG -, ZBR 2024, 211 = juris Rn. 47; Sächs. OVG, Urteil vom 8.11.2016 — 2 A 484/15 -, juris Rn. 21; Hartung, VBlBW 2023, 45 (55).
Das Verwaltungsgericht hat sich jedoch nicht auf eine angenommene Bindungswirkung der PDV 300 gestützt; es hat vielmehr die mit dem Zulassungsantrag betonte Anforderung, im konkreten Fall zu prüfen, ob bei Vorliegen eines bestimmten, dort aufgeführten Erkrankungstatbestands hinreichende Anhaltspunkte für die vom Bundesverwaltungsgericht geforderte Gesundheitsprognose gegeben sind, der Sache nach zugrunde gelegt. Das Gericht hat ausdrücklich festgestellt, die Feststellung der Polizeidienstunfähigkeit könne auf die polizeiamtsärztlichen Gutachten vom 20.11.2018 gestützt werden. Diese Gutachten beruhten auf einer hinreichenden Sachverhaltsermittlung und erschienen hinsichtlich der darin gezogenen Schlussfolgerungen als plausibel und in sich schlüssig. Sie enthielten die notwendigen Feststellungen zum Sachverhalt und stellten die aus medizinischer Sicht daraus abzuleitenden Schlussfolgerungen für die Fähigkeit der Klägerin, den dienstlichen Anforderungen weiter zu genügen, dar. Daher könne der Klägerin nicht darin zugestimmt werden, die vom Polizeiarzt angenommene Polizeidienstunfähigkeit sei ausschließlich damit begründet worden, dass der Ausschlussgrund Nr. 2.1.2. der PDV 300/Anlage 1 vorliege. Mit diesen Ausführungen setzt sich der Zulassungsantrag nicht weiter auseinander.
2. Die Klägerin macht ferner erfolglos geltend, es hätte ein Facharzt für Diabetologie hinzugezogen werden müssen; die Gutachten des LRMD Dr. V. und der ORMRin A. griffen “hinsichtlich ihrer prognostischen Aussagekraft nicht weit genug”.
Zunächst lagen dem Dienstherrn fachärztliche Stellungnahmen bereits vor, nämlich die des Dr. H. vom 26.4.2018 sowie des Dr. F. vom 29.5.2018, die der Polizeiamtsarzt auch berücksichtigt hat. Es ist auch nicht zu beanstanden, dass der Dienstherr bei der Feststellung der Polizeidienstunfähigkeit maßgeblich auf das polizeiamtsärztliche Gutachten vom 20.11.2018 abgestellt hat. Einer amtsärztlichen Stellungnahme als neutrale, unabhängige, in Distanz zu beiden Beteiligten stehende Einschätzung kommt im Verhältnis zu privatärztlichen Attesten in der Regel eine vorrangige Bedeutung zu.
Vgl. BVerwG, Urteil vom 16.11.2017 — 2 A 5.16 -, DRiZ 2018, 148 = juris Rn. 24; OVG NRW, Beschluss vom 29.7.2021 — 1 B 465/21 -, juris Rn. 33f., jeweils m. w. N., und Bay. VGH, Beschluss vom 6.12.2018 — 6 ZB 18.2176 -, juris Rn. 8.
Diese Annahme findet ihre Rechtfertigung nicht nur in der Neutralität und Unabhängigkeit des Amtsarztes, sondern auch darin, dass dieser — und zumal der Polizeiarzt — regelmäßig über bessere Kenntnisse hinsichtlich der Belange der öffentlichen Verwaltung und der vom Beamten zu verrichtenden Tätigkeiten sowie über größere Erfahrung bei der Beurteilung der Dienstfähigkeit verfügen wird.
OVG NRW, Beschlüsse vom 29.7.2021 — 1 B 465/21 -, juris Rn. 33f., und vom 10.11.2021 — 1 E 869/20 -, juris Rn. 20 m. w. N.
Das pauschale Zulassungsvorbringen, es habe eine “zunehmende Spezialisierung auf Facharztebenen” stattgefunden und “überwiegend diese Fachärzte” wiesen “die besondere medizinische Sachkunde” auf, stellt die genannte Annahme der Rechtsprechung nicht durchgreifend in Frage. Erst recht lässt der Vortrag nicht erkennen, dass im Streitfall anderes zu gelten hätte. Hier steht vielmehr nicht die Beurteilung der — als solcher unstreitigen — gesundheitlichen Einschränkungen der Klägerin im Vordergrund, sondern die Frage, inwieweit sie mit diesen Einschränkungen den Anforderungen des Polizeivollzugsdienstes vollumfänglich genügen kann, so dass gerade diesbezügliche Kenntnisse von besonderer Bedeutung sind. Erfolglos macht der Zulassungsantrag ferner geltend, es sei “naturgemäß eine tragende Aufgabe eines Diabetologen, sich insbesondere mit der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit von Diabetespatienten Typ 1 etc. auseinanderzusetzen”. Diese Behauptung bleibt wiederum ohne jede Unterfütterung und Bezug zum konkreten Fall, in dem es um die Beurteilung nicht der Arbeitsfähigkeit, sondern der — besondere gesundheitliche Anforderungen stellenden — Polizeidienstfähigkeit geht.
Zu der Rechtsbehauptung, die prognostische Aussagekraft der Gutachten des LRMD Dr. V. (gemeint wohl: vom 20.11.2018) und der ORMRin A. (gemeint wohl: vom 8.6.2018) sei defizitär, bleiben jegliche weitere Ausführungen aus, so dass schon die Darlegungsanforderungen verfehlt werden.
3. Soweit der Zulassungsantrag auf Fälle anderer Polizeibeamter verweist, die ebenfalls an Diabetes Typ 1 erkrankt seien, gleichwohl aber ihren Polizeivollzugsdienst ohne wesentliche Einschränkungen versehen dürften, fehlt es schon an der Nennung jeder näheren Einzelheiten der (angeblichen) Vergleichsfälle. Abgesehen davon könnte die Klägerin, sofern die angegriffene Entscheidung des Dienstherrn in ihrem Fall den gesetzlichen Vorgaben genügt, nichts für sich daraus herleiten, wenn der Dienstherr in anderen Fällen die gebotenen Konsequenzen nicht zieht.
4. Auf das Zulassungsvorbringen, die Klägerin sei nunmehr mit neuer Medizintechnik — nämlich dem “Dexcom G 6”-Sensor und der schlauchlosen Insulinpumpe “Omnipod Dash” ausgestattet, kommt es schon nicht an, weil der Zulassungsantrag die Annahme des Verwaltungsgerichts nicht in Zweifel zieht, maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit eines Bescheides, mit dem die Polizeidienstunfähigkeit eines Beamten festgestellt werde, sei derjenige der letzten Behördenentscheidung. Abgesehen davon ist mit dem Zulassungsvorbringen auch nicht dargelegt, dass — was die Klägerin behauptet — ihr Einsatz in den amtsärztlich beschriebenen Extremeinsatzlagen nunmehr ohne Einschränkungen möglich und den insbesondere im Gutachten von RMDin Dr. T. vom 6.7.2023 im Einzelnen aufgeführten Bedenken gegenüber einer Verwendung der Klägerin im Polizeivollzugsdienst nunmehr vollständig Rechnung getragen ist. Dabei hat RMDin Dr. T. bereits die Versorgung der Klägerin mit einem kontinuierlichen Blutzuckermesssystem und einer Insulinpumpe, die jeweils am Körper getragen und mit einem Klebesystem fixiert werden, berücksichtigt. Zu den nunmehr von der Klägerin verwendeten Geräten beschränkt sich der Zulassungsantrag auf den Verweis auf entsprechende Links. Zu dem Omnipod Dash heißt es dort (https://www.omnipod.com/dede/wasistomnipod), gesteuert werde der Pod drahtlos über ein passendes Handgerät, damit der Patient die Insulindosis bedarfsgemäß anpassen könne. Die Geräte steuern die Insulinzufuhr demnach offenbar (weiterhin) nicht von allein, sondern bedürfen der menschlichen Mitwirkung. Die Klägerin legt damit weder dar, dass die Möglichkeit, die dienstliche Tätigkeit dazu jederzeit — wenn auch nur ganz kurzfristig — zu unterbrechen, nicht mehr gegeben sein muss, noch, dass ein Dislozieren bzw. Fehlfunktionen der Geräte sicher auszuschließen sind. Damit kann nicht als gewährleistet angesehen werden, dass sie in jeder Einsatzsituation in der Lage ist, einer Hypoglykämie durch geeignete Gegenmaßnahmen zu begegnen.
Vgl. zu diesem Aspekt und der daraus folgenden Annahme der Polizeidienstunfähigkeit nach diagnostiziertem Diabetes mellitus OVG NRW, Beschluss vom 21.12.2021 — 1 B 1152/21 -, PersR 2022, 37 = juris Rn. 13.
5. Auch hinsichtlich des Vortrags, in Thüringen würden Polizeibeamte, die an Diabetes Typ I erkrankt seien, als polizeidienstfähig angesehen, lässt es der Zulassungsantrag an jeder Darlegung über die bloße Behauptung hinaus fehlen. Vergeblich macht die Klägerin ferner geltend, es sei “sicherlich nicht erwünscht”, dass hinsichtlich der Anwendbarkeit der PDV 300 in der Bundesrepublik ein Flickenteppich entstehe. Dem ist nichts dafür zu entnehmen, warum (gerade) die Praxis des Landes Thüringen — soweit sie überhaupt bestanden hat bzw. noch besteht — im Bundesgebiet und auch im Streitfall maßgeblich sein soll.
6. Die abschließende Rüge, das Verwaltungsgericht sei durch die polizeiamtsärztlichen Gutachten vom 8.6.2018 und vom 20.11.2018 nicht in die Lage versetzt worden, “mit der notwendigen Sachkunde ausgestattet die für die Entscheidung notwendige Überzeugungsbildung zu ermöglichen”, bleibt wiederum ohne jede Erläuterung. Den näheren Ausführungen des Verwaltungsgerichts, wonach die Gutachten auf einer hinreichenden Sachverhaltsermittlung beruhten und hinsichtlich der gezogenen Schussfolgerungen plausibel und schlüssig erschienen, setzt der Zulassungsantrag damit nichts von Substanz entgegen.
7. Weitere Fragen werden mit dem Antrag nicht aufgeworfen und sind damit der Prüfung des Senats entzogen. Nur angemerkt sei daher, dass auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Klägerin im Verfahren 6 B 523/24 keine andere Entscheidung gerechtfertigt wäre. In jenem Verfahren geht es ihr um die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung der vorliegenden Klage gegen den Bescheid vom 28.1.2019, dessen sofortige Vollziehbarkeit das beklagte Land inzwischen angeordnet hat. Zu Unrecht macht die Klägerin hier geltend, die Anordnung der polizeiamtsärztlichen Untersuchung sei rechtswidrig gewesen, weil diese die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen, die ihre Dienstunfähigkeit als naheliegend erscheinen ließen, habe vermissen lassen. Es kann keinem ernsthaften Zweifel unterliegen, dass der Dienstherr, wenn er — wie hier — davon Kenntnis erhält, dass ein Beamter an einer schwerwiegenden und möglicherweise die Dienstfähigkeit ausschließenden Krankheit leidet, berechtigt ist, diesen darauf amtsärztlich untersuchen zu lassen, und zwar ungeachtet davon, ob bereits Ausfallzeiten eingetreten sind; dieser hinreichende Untersuchungsanlass war in den Untersuchungsanordnungen im Streitfall genannt. Abgesehen davon gilt — worauf bereits das Verwaltungsgericht hingewiesen hat — nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass die Rechtswidrigkeit der Gutachtensanordnung nach Erstellung des Gutachtens ohne Bedeutung ist.
Vgl. nur BVerwG, Urteil vom 26.4.2012 — 2 C 17.10 -, NVwZ 2012, 1483 = juris Rn. 18.
Die Frage der Weiterverwendung der Klägerin ist im Streitfall nicht aufgeworfen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf §§ 40, 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO; §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG). Das Urteil des Verwaltungsgerichts ist rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).