SOZIALGERICHT NÜRNBERG

IM NAMEN DES VOLKES

URTEIL

in dem Rechts­streit

- Kläger -

gegen

- Beklag­te -
Kran­ken­ver­si­che­rung

Die 7. Kammer des Sozi­al­ge­richts Nürn­berg hat auf die münd­li­che Ver­hand­lung in Nürn­berg

am 20. Dezem­ber 2012

durch die Rich­te­rin am Sozi­al­ge­richt D. als Vor­sit­zen­de sowie die ehren­amt­li­chen Rich­ter M. und Dr. L.

für Recht erkannt:

  1.  Die Beklag­te wird unter Auf­he­bung des Bescheids vom 21.07.2011 in der Gestalt des Wider­spruchs­be­schei­des vom 16.11.2011 ver­ur­teilt, dem Kläger 56,53 Euro für die Ver­sor­gung mit Hypu­rin Por­ci­ne Insu­lin 30/70 zu erstat­ten.
  2. Es wird fest­ge­stellt, dass die Beklag­te auch die wei­te­re Ver­sor­gung des Klä­gers mit Hypu­rin Por­ci­ne Insu­lin 30/70 zu über­neh­men hat.
  3. Die Beklag­te trägt die außer­ge­richt­li­chen Kosten des Klä­gers.

Tat­be­stand:

Der Kläger begehrt die Ver­sor­gung mit Hypu­rin Por­ci­ne Insu­lin 30/70.

Der am 20.08.1956 gebo­re­ne Kläger ist bei der Beklag­ten gegen Krank­heit ver­si­chert. Er leidet seit dem Jahr 1973 unter einem Dia­be­tes mel­li­tus Typ 1 mit schwe­ren Spät­schä­den.

Am 22.02.2011 wandte sich der behan­deln­de Dia­be­to­lo­ge des Klä­gers, Dr. N., Kli­ni­kum Ans­bach, an die Beklag­te.
Auf­grund des ungüns­ti­gen Ver­laufs der Dia­be­tes­er­kran­kung des Klä­gers sei eine opti­ma­le Dia­be­tes­the­ra­pie unbe­dingt erfor­der­lich. Über meh­re­re Jahre hinweg habe er beob­ach­ten können, wie es unter einer inten­si­vier­ten Insu­lin­the­ra­pie nach dem Basis-Bolus-Schema unter Ein­satz von huma­nen Insu­lin­prä­pa­ra­ten zu schwe­ren The­ra­pie­ne­ben­wir­kun­gen gekom­men sei. Diese bestan­den im Wesent­li­chen aus schwe­ren Hypo­glyk­ämien, die wie­der­holt den Ein­satz eines Not­arz­tes erfor­der­lich gemacht hätten.
Es sei bekannt, dass im Falle häu­fi­ger Hypo­glyk­ämien unter Behand­lung mit huma­nen Insu­lin­prä­pa­ra­ten der Wech­sel auf ein Schwei­ne­insu­lin Vor­tei­le bieten könne. Man habe in diesem Sinne den Wech­sel auf ein im Aus­land pro­du­zier­tes Schwei­ne­insu­lin vor­ge­nom­men und konnte seit­dem einen dra­ma­ti­schen Rück­gang der Hypo­glyk­ämie­ereig­nis­se beob­ach­ten.
Ange­sichts der Beob­ach­tun­gen zum Krank­heits­ver­lauf des Klä­gers erschei­ne ein Fest­hal­ten an der Behand­lung mit einem Schwei­ne­insu­lin sehr sinn­voll zu sein. Das der­zei­ti­ge Prä­pa­rat hieße Hypu­rin Por­ci­ne Insu­lin 30/70 und werde über eine Apo­the­ke aus dem Aus­land bezo­gen.
Die Beklag­te teilte dem Kläger mit Schrei­ben vom 02.03.2011 mit, dass eine Kos­ten­über­nah­me nicht mög­lich sei. Die Behand­lung mit Schwei­ne­insu­lin sei in der Kurz­zeit­be­hand­lung sinn­voll. Bei ihm solle jedoch eine län­ger­fris­ti­ge Behand­lung durch­ge­führt werden. Nach Rück­spra­che mit dem Medi­zi­ni­schen Dienst der Kran­ken­kas­sen (MDK) sei dies wegen der bekann­ten Neben­wir­kun­gen medi­zi­nisch nicht zu befür­wor­ten.

Mit Schrei­ben vom 22.03.2012 teilte die Beklag­te dem Kläger erneut mit, dass eine Kos­ten­über­nah­me nicht mög­lich sei. Das Arz­nei­mit­tel sei in Deutsch­land nicht zuge­las­sen. Nach Rück­spra­che mit dem Medi­zi­ni­schen Dienst seien aus­rei­chen­de Alter­na­ti­ven in Deutsch­land vor­han­den.
Am 11.07.2011 bean­trag­te der Bevoll­mäch­tig­te des Klä­gers die Über­nah­me der Kosten für das Medi­ka­ment in Höhe von 56,63 Euro. Dieses sei ärzt­lich ver­ord­net und medizi-nisch drin­gend erfor­der­lich. Dem bei­gefügt war eine ärzt­li­che Ver­ord­nung der Praxis Dres. S./D. vom 23.05.2011 sowie eine Rech­nung der N. Apo­the­ke Ans­bach.
Mit Schrei­ben vom 21.07.2011 lehnte die Beklag­te eine Kos­ten­über­nah­me für Arz­nei­mit-tel, die auf Pri­vat­re­zept ver­schrie­ben worden seien, ab.

Hier­ge­gen erhob der Kläger mit Schrei­ben seines Bevoll­mäch­tig­ten vom 12.08.2011 Wider­spruch.

Die Ver­sor­gung des Klä­gers mit diesem Arz­nei­mit­tel sei aus medi­zi­ni­schen Grün­den erfor­der­lich, wie sich aus dem Schrei­ben des Kli­ni­kums Ans­bach vom 22.02.2011 ergebe.
Mit Bescheid vom 16.11.2011 wies die Beklag­te den Wider­spruch des Klä­gers zurück. Grund­sätz­lich könn­ten Arz­nei­mit­tel nur dann zu Lasten der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung ver­ord­net werden, wenn für diese eine inner­staat­lich wirk­sa­me Arz­nei­mit­tel­zu­las­sung vor­lie­ge. Nach § 73 Abs. 3 AMG sei zwar das Ein­füh­ren von in Deutsch­land nicht zuge­las­se­nen Arz­nei­mit­teln im Ein­zel­fall mög­lich. Dabei handle es sich um Arz­nei­mit­tel, die zwar in Deutsch­land ver­kehrs­fä­hig, nicht aber zu Lasten der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung ver­ord­nungs­fä­hig seien.

Auch eine Kos­ten­über­nah­me unter Berück­sich­ti­gung des Beschlus­ses des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98) und des Urteils des Bun­des­so­zi­al­ge­richts vom 04.04.2006 (B 1 KR 7/05 R) als beson­de­rer Ein­zel­fall sei nicht mög­lich, weil keine not­stands­ähn­li­che Situa­ti­on vor­lie­gen würde.

Mit Schrift­satz seines Bevoll­mäch­tig­ten vom 07.12.2011 erhob der Kläger hier­ge­gen Klage zum Sozi­al­ge­richt Nürn­berg. Er legt unter ande­rem ein Schrei­ben des Baye­ri­schen Staats­mi­nis­te­ri­ums für Umwelt und Gesund­heit vor. In diesem wird aus­ge­führt, dass Schwei­ne­insu­lin auf dem deut­schen Markt nicht zur Ver­fü­gung stehe, die Pati­en­ten jedoch die Mög­lich­keit hätten, dieses aus dem Aus­land zu bezie­hen. Die Kosten würden in der Regel von den gesetz­li­chen Kran­ken­kas­sen über­nom­men, nach den Infor­ma­tio­nen des Minis­te­ri­ums gesche­he dies in der Regel rela­tiv pro­blem­los.

Die vor­ge­leg­ten medi­zi­ni­schen Unter­la­gen würden die Not­wen­dig­keit der Behand­lung mit Schwei­ne­insu­lin bestä­ti­gen.

Der Kläger bean­tragt
den Bescheid der Beklag­ten vom 21.07.2011 in der Gestalt des Wider­spruchs­be­scheids vom 16.11.2011 auf­zu­he­ben und die Beklag­te zu ver­ur­tei­len, dem Kläger 56,23 Euro für die Ver­sor­gung mit Hypu­rin Por­ci­ne Insu­lin zu erstat­ten und fest­zu­stel­len, dass auch die wei­te­re Ver­sor­gung mit Hypu­rin Por­ci­ne Insu­lin 30/70 von der Beklag­ten zu über­neh­men ist.

Die Beklag­te bean­tragt die Klage abzu­wei­sen.

Das Gericht holte nach Anfor­de­rung ärzt­li­cher Befund­be­rich­te ein medi­zi­ni­sches Sach­ver­stän­di­gen­gut­ach­ten durch den Dia­be­to­lo­gen Prof. Dr. Haak, Dia­be­tes Zen­trum Bad Mer­gen­heim, ein.

Der Gut­ach­ter führt aus, dass unter Berück­sich­ti­gung der Ana­mne­se des Klä­gers und des Gesamt­bil­des davon aus­zu­ge­hen sei, dass keine Unver­träg­lich­keit des Human­in­su­lins vor­lie­ge. Jedoch zeige sich eine aus­ge­präg­te Hypo­wahr­neh­mungs­stö­rung bei einer zu-sätz­lich extrem hohen Insu­lin­sen­si­vi­tät. Die der­zei­ti­ge The­ra­pie mit Hypu­rin Por­ci­ne 30/70 Mix von ins­ge­samt 8 IE pro Tag, die hier nach gemes­se­nem Blut­zu­cker­wert um je 2 IE redu­ziert würden, zeige die deut­li­che Insu­lin­sen­si­vi­tät.

Aus dem Gut­ach­ten geht hervor, dass im Zeit­raum der Human­in­su­lin­the­ra­pie 26 Not­arzt­ein­sät­ze doku­men­tiert seien. Es sei davon aus­zu­ge­hen, dass der Kläger unter Schwei­ne­insu­lin im Ver­gleich hierzu deut­lich weni­ger hypo­gly­kä­me Ent­glei­sun­gen erlei­den werde. Diese seien drin­gend zu ver­mein­den, wie die ACCORD- and ADVAN­CE-Studie gezeigt habe. Sie könn­ten zu Herz­rhyth­mus­stö­run­gen mit mög­li­cher Todes­fol­ge führen.

Die Schwei­ne­insu­lin­the­ra­pie sei folg­lich vor­zu­zie­hen.
Wegen der Ein­zel­hei­ten wird auf die Gerichts­ak­te sowie die Ver­wal­tungs­ak­te der Beklag­ten ver­wie­sen.

Ent­schei­dungs­grün­de

Die zuläs­si­ge Klage hat Erfolg. Der Kläger hat Anspruch auf die Kos­ten­über­nah­me für das Prä­pa­rat „Hypu­rin Por­ci­ne Insu­lin”. Die Zuläs­sig­keit des Fest­stel­lungs­an­trags ergibt sich aus § 55 Abs. 1 Ziffer 1 SGG, da die Leis­tungs­pflicht der Beklag­ten ein zwi­schen den Betei­lig­ten bestehen­des Rechts­ver­hält­nis betrifft. Das Fest­stel­lungs­in­ter­es­se folgt daraus, dass der Kläger dau­er­haft auf die Insu­lin­ga­be ange­wie­sen ist.
1.
Rechts­grund­la­ge für die Erstat­tung der für das Prä­pa­rat „Hypu­rin Por­ci­ne Insu­lin” vom Kläger auf­ge­wand­ten Kosten in Höhe von 56,53€ ist § 13 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. SGB V, denn die Beklag­te hatte mit Bescheid vom 21.07.2011 die Kos­ten­über­nah­me zu Unrecht abge­lehnt.
Der nach § 13 Abs 3 SGB V in Betracht kom­men­de Kos­ten­er­stat­tungs­an­spruch reicht nicht weiter als ein ent­spre­chen­der Sach­leis­tungs­an­spruch des Ver­si­cher­ten gegen seine Kran­ken­kas­se. Er setzt daher im Regel­fall voraus, dass die selbst­be­schaff­te Behand­lung zu den Leis­tun­gen gehört, welche die Kran­ken­kas­sen all­ge­mein in Natur als Sach- oder Dienst­leis­tung zu erbrin­gen haben ( stRspr, vgl zB BSGE 79, 125, 126 f = SozR 3–2500 § 13 Nr 11 S 51 f mwN; BSGE 93, 236 = SozR 4–2500 § 27 Nr 1, jeweils RdNr 10 — Visu­dy­ne ®; BSG SozR 4–2500 § 27a Nr 1 RdNr 3 — ICSI). Dies ist bei dem Arz­nei­mit­tel „Hypu­rin Por­ci­ne Insu­lin” im Grund­satz nicht der Fall. Denn Fer­tig­arz­nei­mit­tel sind man­gels Zweck­mä­ßig­keit und Wirt­schaft­lich­keit (§ 2 Abs 1 Satz 1, § 12 Abs 1 SGB V) nicht von der Leis­tungs­pflicht der GKV nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 und 3, § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erfor­der­li­che (§ 21 Abs 1 AMG) arz­nei­mit­tel­recht­li­che Zulas­sung fehlt ( vgl BSG, Urteil vom 4. April 2006 — B 1 KR 12/04 R — D‑Ribose, RdNr 22 mwN).
Für das zulas­sungs­pflich­ti­ge „Hypu­rin Por­ci­ne Insu­lin” lag weder in Deutsch­land noch EU-weit eine solche Arz­nei­mit­tel­zu­las­sung vor. Die in ein­zel­nen EU-Staa­ten und der Schweiz beschränkt auf diese Staa­ten erteil­te Arz­nei­mit­tel­zu­las­sung von „Hypu­rin Por­ci­ne Insu­lin” ent­fal­te­te nicht zugleich auch ent­spre­chen­de Rechts­wir­kun­gen für Deutsch­land; denn we-der das deut­sche Recht noch das Euro­pa­recht sehen eine solche Erwei­te­rung der Rechts­wir­kun­gen der nur von natio­na­len Behör­den erteil­ten Zulas­sun­gen ohne ein ent-spre­chend vom Her­stel­ler ein­ge­lei­te­tes sowie posi­tiv beschie­de­nes Antrags­ver­fah­ren vor vgl im Ein­zel­nen BSGE 93, 1 = SozR 4–2500 § 31 Nr 1, jeweils Leit­satz und RdNr 11 ff — Immu­co­thel ®).

Die ein­schlä­gi­gen Rege­lun­gen des Leis­tungs­rechts der GKV zur Arz­nei­mit­tel­ver­sor­gung bedür­fen jedoch in Fällen der vor­lie­gen­den Art auf Grund des Beschlus­ses des BVerfG vom 6. Dezem­ber 2005 ( 1 BvR 347/98 — SozR 4–2500 § 27 Nr 5 = NZS 2006, 84 = NJW 2006, 891 = MedR 2006, 164 — immun­bio­lo­gi­sche The­ra­pie ) auch im Arz­nei­mit­tel­be­reich einer weiter gehen­den ver­fas­sungs­kon­for­men Aus­le­gung.
Diese Aus­le­gung hat zur Folge, dass die Anspruchs­vor­aus­set­zun­gen von § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 und § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V in Fällen wie dem des Klä­gers nach der Recht­spre­chung des Bun­des­so­zi­al­ge­richts (vgl. Urteil vom 04.04.2006, B 1 KR 7/05 R) aus­nahms-weise bejaht werden müssen. Der Kläger leidet an einer lebens­be­droh­li­chen Erkran­kung, bei der die Anwen­dung der übli­chen Stan­dard-Behand­lung mit gene­tisch her­ge­stell­ten Human­in­su­lin aus medi­zi­ni­schen Grün­den aus­schied und andere Behand­lungs­mög­lich-keiten nicht zur Ver­fü­gung stehen. Der Ver­trags­arzt durfte daher in diesem medi­zi­nisch begrün­de­ten Ein­zel­fall „Hypu­rin Por­ci­ne Insu­lin” aus­nahms­wei­se auf Kosten der Beklag­ten ver­ord­nen, obwohl das Mittel bloß gemäß § 73 Abs 3 AMG im Wege des Ein­zelim-ports über eine Apo­the­ke aus der Schweiz beschafft wurde und des­halb an sich von der Ver­sor­gung aus­ge­schlos­sen war (vgl oben 1.b). Die Behand­lung war beim Kläger “not­wen­dig” iS von § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V, um die Ver­schlim­me­rung ihrer Krank­heit zu ver­hü­ten.

Die vom BVerfG zum Anspruch von Ver­si­cher­ten auf ärzt­li­che Behand­lung mit nicht all-gemein aner­kann­ten Metho­den im Beschluss vom 6. Dezem­ber 2005 (Az. 1 BvR 347/98) ent­wi­ckel­ten Grund­sät­ze gelten sinn­ge­mäß auch im Bereich der Ver­sor­gung mit Arz­nei­mit­teln.
Das BVerfG hat in dem genann­ten Beschluss zu einer ärzt­li­chen Behand­lungs­me­tho­de das Urteil des Senats vom 16. Sep­tem­ber 1997 ( BSGE 81, 54 = SozR 3–2500 § 135 Nr 4 ) auf­ge­ho­ben und ent­schie­den, dass es mit den Grund­rech­ten aus Art 2 Abs 1 in Ver­bin­dung mit dem Sozi­al­staats­prin­zip und aus Art 2 Abs 2 Satz 1 Grund­ge­setz nicht ver­ein­bar ist, einen gesetz­lich Kran­ken­ver­si­cher­ten, für dessen lebens­be­droh­li­che oder regel­mä­ßig töd­li­che Erkran­kung eine all­ge­mein aner­kann­te, medi­zi­ni­schem Stan­dard ent­spre­chen­de Behand­lung nicht zur Ver­fü­gung steht, gene­rell von der Gewäh­rung einer von ihm ge-wähl­ten, ärzt­lich ange­wand­ten Behand­lungs­me­tho­de aus­zu­schlie­ßen, wenn eine nicht ganz ent­fernt lie­gen­de Aus­sicht auf Hei­lung oder auf eine spür­ba­re posi­ti­ve Ein­wir­kung auf den Krank­heits­ver­lauf besteht. Der Beschluss bean­stan­det inso­weit eine ver­fas­sungs­wid­ri­ge Aus­le­gung im Grund­satz ver­fas­sungs­ge­mä­ßer Vor­schrif­ten des SGB V durch das BSG.

Eine Leis­tungs­ver­wei­ge­rung der Kran­ken­kas­se unter Beru­fung darauf, eine bestimm­te neue ärzt­li­che Behand­lungs­me­tho­de sei im Rahmen der GKV aus­ge­schlos­sen, weil der zustän­di­ge Gemein­sa­me Bun­des­aus­schuss (G‑BA, vgl § 91 SGB V) diese noch nicht an-erkannt oder sie sich zumin­dest in der Praxis und in der medi­zi­ni­schen Fach­dis­kus­si­on noch nicht durch­ge­setzt hat ( zusam­men­fas­send BSGE 94, 221 RdNr 23 = SozR 4–2400 § 89 Nr 3 RdNr 24 mwN ), ver­stößt nach dieser Recht­spre­chung des BVerfG gegen das Grund­ge­setz, wenn fol­gen­de drei Vor­aus­set­zun­gen kumu­la­tiv erfüllt sind:

  • Es liegt eine lebens­be­droh­li­che oder regel­mä­ßig töd­lich ver­lau­fen­de Erkran­kung vor.
  • Bezüg­lich dieser Krank­heit steht eine all­ge­mein aner­kann­te, medi­zi­ni­schem Stan­dard ent­spre­chen­de Behand­lung nicht zur Ver­fü­gung
  • Bezüg­lich der beim Ver­si­cher­ten ärzt­lich ange­wand­ten (neuen, nicht all­ge­mein aner­kann­ten) Behand­lungs­me­tho­de besteht eine “auf Indi­zi­en gestütz­te” nicht ganz fern lie­gen­de Aus­sicht auf Hei­lung oder wenigs­tens auf eine spür­ba­re posi­ti­ve Ein­wir­kung auf den Krank­heits­ver­lauf ( BVerfG, aaO, RdNr 64 = SozR, aaO, RdNr 3).

 

Der Kläger leidet unter einem Dia­be­tes mel­li­tus Typ 1, bei dem selbst bei dau­er­haf­ter Be-hand­lung bereits schwe­re Spät­schä­den (dia­be­ti­sche Reti­no­pa­thie rechts, dia­be­ti­sche Gang­rän mit Zustand nach Vor­fuß­am­pu­ta­ti­on beid­seits, etc.) ein­ge­tre­ten sind. Es steht außer Frage, dass die Erkran­kung ohne Behand­lung binnen kür­zes­ter Zeit lebens­be­droh­li­che Folgen hätte. Dane­ben liegt beim Kläger jedoch gemäß dem Gut­ach­ten des Prof. Dr. Haak zwar keine Insu­lin­un­ver­träg­lich­keit, son­dern viel­mehr eine Hypo­glyk­ämie-Wahr­neh­mungs­stö­rung vor. Diese führt dazu, dass der Kläger nicht in der Lage ist, die ersten Anzei­chen einer Unter­zu­cke­rung wahr­zu­neh­men und ent­spre­chend gegen­zu­steu­ern.

Hypo­glyk­ämie bezeich­net in der Medi­zin einen zu nied­ri­gen Blut­zu­cker­spie­gel bzw. zu nied­ri­gen Glu­co­se­an­teil im Blut (umgangs­sprach­lich auch Unter­zu­cker). Die Sym­pto­ma­tik geht von Unruhe oder Heiß­hun­ger­at­ta­cken über leicht ver­min­der­te Hirn­leis­tung und Aggres­si­vi­tät bis hin zu Krampf­an­fäl­len oder Schock (umgangs­sprach­lich „Zucker­schock”), je nach Ausmaß der Unter­zu­cke­rung. Bei einer Unter­zu­cke­rung sinkt der Zucker­ge­halt im Körper so weit ab, dass die Funk­ti­ons­fä­hig­keit der Zellen beein­träch­tigt wird. Hypo­glyk­ämien können abhän­gig von ihrem Ausmaß und bei wie­der­hol­tem Auf­tre­ten zu Schä­den am Gehirn bis hin zum Tode führen. Häu­fi­ger tritt der Tod jedoch nicht durch die Hypo­glyk­ämie selbst auf, son­dern durch die Folgen des Kon­troll­ver­lus­tes, denn bei zuneh­men­der Bewusst­seins­ein­trü­bung kann es — ähn­lich der Alko­hol­in­to­xi­ka­ti­on — zu schwe­ren Stür­zen oder Ver­kehrs­un­fäl­len kommen; durch Aspi­ra­ti­on auf­grund feh­len­der Schutz­re­fle­xe k.ann der Betrof­fe­ne zudem ersti­cken (Quelle: Wiki­pe­dia).
Unter der Behand­lung mit Human­in­su­lin sind 26 Not­arzt­ein­sät­ze doku­men­tiert. Pati­en­ten mit Hypo­glyk­ämie-Wahr­neh­mungs­stö­rung haben im Ver­gleich zu Pati­en­ten mit erhal­te­ner Wahr­neh­mung ein 25-fach erhöh­tes Risiko für eine schwe­re Hypo­glyk­ämie (MWW-Fort­schr. Med. Nr. 12/2006, S. 50). In der münd­li­chen Ver­hand­lung haben der Kläger und seine Ehe­frau glaub­haft und ein­drück­lich geschil­dert, dass es nur der Wahr­neh­mun­gen und des Ein­sat­zes seiner Ehe­frau zu ver­dan­ken ist, dass der Kläger noch am Leben ist. In Anbe­tracht der Gehäuft­heit des Auf­tre­tens poten­ti­ell lebens­be­droh­li­cher Situa­ti­on sieht die Kammer hier — in Über­ein­stim­mung mit Prof. Haak — das Kri­te­ri­um einer lebens­be­droh­li­chen Erkran­kung als erfüllt an.
Dies führt dazu, dass für die Dia­be­tes-Erkran­kung des Klä­gers somit keine dem medizi-nischen Stan­dard ent­spre­chen­de The­ra­pie zur Ver­fü­gung steht. Zuge­las­sen sind in Deutsch­land aus­schließ­lich gen­tech­nisch her­ge­stell­te Human­in­su­lin­prä­pa­ra­te. Die vor­mals vor­han­de­nen tie­ri­schen Insu­lin­prä­pa­ra­te sind sämt­lich vom Markt genom­men worden, die ent­spre­chen­den Zulas­sun­gen wurden sämt­lich zurück­ge­ge­ben. Die Behand­lung mit gen­tech­nisch her­ge­stell­ten Human­in­su­lin ist nach den Fest­stel­lun­gen des gericht­lich bestell­ten Gut­ach­ters jedoch kon­tra­in­di­ziert. Es ist zu erwar­ten, dass bei der Weiter­be-hand­lung mit Human­in­su­lin wieder Hypo­glyk­ämien in gehäuf­ter Form auf­tre­ten werden. Unter Ein­satz des streit­ge­gen­ständ­li­chen Prä­pa­rats ist dies nicht der Fall. Der Gut­ach­ter kommt daher zu der Ein­schät­zung, dass eine Behand­lung mit Human­in­su­lin aus­schei­det.
Durch die Behand­lung mit „Hypu­rin Pro­ci­ne Insu­lin” ist auch eine spür­bar posi­ti­ve Ein­wir­kung auf den Krank­heits­ver­lauf zu erwar­ten. Die tat­säch­li­chen Fest­stel­lun­gen, dass unter Ein­satz von Scheine­insu­lin keine Hypo­glyk­ämien mehr auf­ge­tre­ten seien, unter der Gabe von Human­in­su­lin jedoch 26, sind nach der Ansicht des Gerichts aus­rei­chend, um den posi­ti­ven Effekt des Schwei­ne­insu­lin nach­zu­wei­sen. Dass die posi­ti­ve Ent­wick­lung allei­ne in der Wahl eines ande­ren Blut­zu­cker­ziel­wer­tes begrün­det ist, wie vom Gut­ach­ter des Medi­zi­ni­schen Diens­tes des Bun­des­ei­sen­bahn­ver­mö­gens ange­nom­men wird, erschließt sich dem Gericht in Anbe­tracht der pro­ble­ma­ti­schen Dia­be­tes­ein­stel­lung des Klä­gers nicht. Aus dem Gut­ach­ten des Dr. Haak ergibt sich, dass auch unter Gabe von Human­in­su­lin ein Ziel­wert von 200 mg/dl ange­strebt worden sei, die posi­ti­ve Ver­än­de­rung kann’ folg­lich nicht in einem höhe­ren Ziel­wert begrün­det sein.
Um die Not­wen­dig­keit der Kran­ken­be­hand­lung iS von §§ 27, 31 SGB V mit einem nicht zuge­las­se­nen, aus dem Aus­land impor­tier­ten Arz­nei­mit­tel trotz der Anfor­de­run­gen des § 2 Abs 1 und § 12 Abs 1 SGB V über die bis­he­ri­ge BSG-Recht­spre­chung hinaus beja­hen zu können, müssen daher neben der nach dem BVerfG erfor­der­li­chen Krank­heits­si­tua­ti­on und den all­ge­mei­nen kran­ken­ver­si­che­rungs­recht­li­chen Erfor­der­nis­sen fol­gen­de Vor­aus­set­zun­gen erfüllt sein:.

  • Es darf kein Ver­stoß gegen das Arz­nei­mit­tel­recht vor­lie­gen.
  • Unter Berück­sich­ti­gung des gebo­te­nen Wahr­schein­lich­keits­maß­sta­bes über­wiegt bei der vor der Behand­lung erfor­der­li­chen sowohl abs­trak­ten als auch spe­zi­ell auf den Ver­si­cher­ten bezo­ge­nen kon­kre­ten Ana­ly­se und Abwä­gung von Chan­cen und Risi­ken der vor­aus­sicht­li­che Nutzen.
  • Die — in erster Linie fach­ärzt­li­che — Behand­lung muss auch im Übri­gen den Regeln der ärzt­li­chen Kunst ent­spre­chend durch­ge­führt und aus­rei­chend doku­men­tiert werden.

Diese Vor­aus­set­zun­gen sind hier unstrei­tig gege­ben.
Der Import von „Hypu­rin Por­ci­ne Insu­lin” aus der Schweiz und dessen Bezug ver­stieß nicht gegen das Arz­nei­mit­tel­recht. Aus dem klä­ger­seits vor­ge­leg­ten Schrei­ben des Baye-rischen Staats­mi­nis­te­ri­ums für Umwelt und Gesund­heit ergibt sich viel­mehr, dass der Im-port tie­ri­scher Insu­lin­prä­pa­ra­te im Grunde sogar als Bestand­teil des Gesund­heits­sys­tems ange­se­hen wird.
Die vor der Behand­lung mit einem Arz­nei­mit­tel der vor­be­schrie­be­nen Art regel­mä­ßig er-for­der­li­che abs­trak­te und kon­kret auf den Ver­si­cher­ten bezo­ge­ne Nutzen-Risiko-Ana­ly­se musste im Falle des Klä­gers unter Beach­tung des gebo­te­nen Wahr­schein­lich­keits­maß-stabes posi­tiv aus­fal­len. Der Wahr­schein­lich­keits­maß­stab, der zu ver­lan­gen ist, um davon aus­ge­hen zu dürfen, dass die behaup­te­ten Behand­lungs­er­fol­ge mit hin­rei­chen­der Sicher­heit dem Ein­satz gerade der strei­ti­gen Behand­lung zuge­rech­net werden können und das ein­zu­ge­hen­de Risiko ver­tret­bar ist, unter­liegt Abstu­fun­gen je nach der Schwe­re und dem Sta­di­um der Erkran­kung.

Der Wahr­schein­lich­keits­maß­stab, der zu ver­lan­gen ist, um da-von aus­ge­hen zu dürfen, dass die behaup­te­ten Behand­lungs­er­fol­ge mit hin­rei­chen­der Sicher­heit dem Ein­satz gerade der strei­ti­gen Behand­lung zuge­rech­net werden können und das ein­zu­ge­hen­de Risiko ver­tret­bar ist, unter­liegt Abstu­fun­gen je nach der Schwe­re und dem Sta­di­um der Erkran­kung. Mit der Umstel­lung des Klä­gers auf tie­ri­sches Insu­lin folgte der behan­deln­de Dia­be­to­lo­ge der Emp­feh­lung der WHO zur Umstel­lung auf tie­ri­sches Insu­lin bei feh­len­der Hypo­glyk­ämie­wahr­neh­mung (WHO Essen­ti­on Medi­cins Libra­ry — EM-Lib: WHO Model For­mu­la­ry Eng­lish Edi­ti­on 2004 Hor­mo­nes and other endo­cri­ne drugs and con­tracep­ti­ves Insu­lins and other anti­dia­be­tic drugs). Auch hier wird die Emp­feh­lung gege­ben, in dem Fall, dass ein Pati­ent glaubt, Human­in­su­lin sei für das Wahr­neh­mungs­de­fi­zit ver­ant­wort­lich, diesen wieder auf tie­ri­sches Insu­lin umzu­stel­len. Dieser Emp­feh­lung ist man gefolgt, so dass das ein poten­ti­ell höhe­res Unver­träg­lich­keits­ri­si­ko bei tie­ri­schem Insu­lin durch den erhöh­ten Nutzen (Weg­fall von Hypo­glyk­ämien) rela­ti­viert wird. Durch­füh­rung und Doku­men­ta­ti­on der fach­ärzt­li­chen Behand­lung ist gewähr­leis­tet.
Im Ergeb­nis bestand daher ein Anspruch auf die Ver­sor­gung mit „Hypu­ri­ne Por­ci­ne Insu­lin”.

2.
Dem Fest­stel­lungs­an­trag des Klä­gers war statt­zu­ge­ben, um die dau­er­haf­te Ver­sor­gung mit Schwei­ne­insu­lin sicher­zu­stel­len. Die Kos­ten­fol­ge ergibt sich aus § 193 SGG

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