Sozialgericht Nürnberg, Urteil vom 20.12.2012, S 7 KR 565/11
SOZIALGERICHT NÜRNBERG
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
in dem Rechtsstreit
- Kläger -
gegen
- Beklagte -
Krankenversicherung
Die 7. Kammer des Sozialgerichts Nürnberg hat auf die mündliche Verhandlung in Nürnberg
am 20. Dezember 2012
durch die Richterin am Sozialgericht D. als Vorsitzende sowie die ehrenamtlichen Richter M. und Dr. L.
für Recht erkannt:
- Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheids vom 21.07.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.11.2011 verurteilt, dem Kläger 56,53 Euro für die Versorgung mit Hypurin Porcine Insulin 30/70 zu erstatten.
- Es wird festgestellt, dass die Beklagte auch die weitere Versorgung des Klägers mit Hypurin Porcine Insulin 30/70 zu übernehmen hat.
- Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Klägers.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt die Versorgung mit Hypurin Porcine Insulin 30/70.
Der am 20.08.1956 geborene Kläger ist bei der Beklagten gegen Krankheit versichert. Er leidet seit dem Jahr 1973 unter einem Diabetes mellitus Typ 1 mit schweren Spätschäden.
Am 22.02.2011 wandte sich der behandelnde Diabetologe des Klägers, Dr. N., Klinikum Ansbach, an die Beklagte.
Aufgrund des ungünstigen Verlaufs der Diabeteserkrankung des Klägers sei eine optimale Diabetestherapie unbedingt erforderlich. Über mehrere Jahre hinweg habe er beobachten können, wie es unter einer intensivierten Insulintherapie nach dem Basis-Bolus-Schema unter Einsatz von humanen Insulinpräparaten zu schweren Therapienebenwirkungen gekommen sei. Diese bestanden im Wesentlichen aus schweren Hypoglykämien, die wiederholt den Einsatz eines Notarztes erforderlich gemacht hätten.
Es sei bekannt, dass im Falle häufiger Hypoglykämien unter Behandlung mit humanen Insulinpräparaten der Wechsel auf ein Schweineinsulin Vorteile bieten könne. Man habe in diesem Sinne den Wechsel auf ein im Ausland produziertes Schweineinsulin vorgenommen und konnte seitdem einen dramatischen Rückgang der Hypoglykämieereignisse beobachten.
Angesichts der Beobachtungen zum Krankheitsverlauf des Klägers erscheine ein Festhalten an der Behandlung mit einem Schweineinsulin sehr sinnvoll zu sein. Das derzeitige Präparat hieße Hypurin Porcine Insulin 30/70 und werde über eine Apotheke aus dem Ausland bezogen.
Die Beklagte teilte dem Kläger mit Schreiben vom 02.03.2011 mit, dass eine Kostenübernahme nicht möglich sei. Die Behandlung mit Schweineinsulin sei in der Kurzzeitbehandlung sinnvoll. Bei ihm solle jedoch eine längerfristige Behandlung durchgeführt werden. Nach Rücksprache mit dem Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) sei dies wegen der bekannten Nebenwirkungen medizinisch nicht zu befürworten.
Mit Schreiben vom 22.03.2012 teilte die Beklagte dem Kläger erneut mit, dass eine Kostenübernahme nicht möglich sei. Das Arzneimittel sei in Deutschland nicht zugelassen. Nach Rücksprache mit dem Medizinischen Dienst seien ausreichende Alternativen in Deutschland vorhanden.
Am 11.07.2011 beantragte der Bevollmächtigte des Klägers die Übernahme der Kosten für das Medikament in Höhe von 56,63 Euro. Dieses sei ärztlich verordnet und medizi-nisch dringend erforderlich. Dem beigefügt war eine ärztliche Verordnung der Praxis Dres. S./D. vom 23.05.2011 sowie eine Rechnung der N. Apotheke Ansbach.
Mit Schreiben vom 21.07.2011 lehnte die Beklagte eine Kostenübernahme für Arzneimit-tel, die auf Privatrezept verschrieben worden seien, ab.
Hiergegen erhob der Kläger mit Schreiben seines Bevollmächtigten vom 12.08.2011 Widerspruch.
Die Versorgung des Klägers mit diesem Arzneimittel sei aus medizinischen Gründen erforderlich, wie sich aus dem Schreiben des Klinikums Ansbach vom 22.02.2011 ergebe.
Mit Bescheid vom 16.11.2011 wies die Beklagte den Widerspruch des Klägers zurück. Grundsätzlich könnten Arzneimittel nur dann zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden, wenn für diese eine innerstaatlich wirksame Arzneimittelzulassung vorliege. Nach § 73 Abs. 3 AMG sei zwar das Einführen von in Deutschland nicht zugelassenen Arzneimitteln im Einzelfall möglich. Dabei handle es sich um Arzneimittel, die zwar in Deutschland verkehrsfähig, nicht aber zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähig seien.
Auch eine Kostenübernahme unter Berücksichtigung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 06.12.2005 (1 BvR 347/98) und des Urteils des Bundessozialgerichts vom 04.04.2006 (B 1 KR 7/05 R) als besonderer Einzelfall sei nicht möglich, weil keine notstandsähnliche Situation vorliegen würde.
Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 07.12.2011 erhob der Kläger hiergegen Klage zum Sozialgericht Nürnberg. Er legt unter anderem ein Schreiben des Bayerischen Staatsministeriums für Umwelt und Gesundheit vor. In diesem wird ausgeführt, dass Schweineinsulin auf dem deutschen Markt nicht zur Verfügung stehe, die Patienten jedoch die Möglichkeit hätten, dieses aus dem Ausland zu beziehen. Die Kosten würden in der Regel von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen, nach den Informationen des Ministeriums geschehe dies in der Regel relativ problemlos.
Die vorgelegten medizinischen Unterlagen würden die Notwendigkeit der Behandlung mit Schweineinsulin bestätigen.
Der Kläger beantragt
den Bescheid der Beklagten vom 21.07.2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16.11.2011 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger 56,23 Euro für die Versorgung mit Hypurin Porcine Insulin zu erstatten und festzustellen, dass auch die weitere Versorgung mit Hypurin Porcine Insulin 30/70 von der Beklagten zu übernehmen ist.
Die Beklagte beantragt die Klage abzuweisen.
Das Gericht holte nach Anforderung ärztlicher Befundberichte ein medizinisches Sachverständigengutachten durch den Diabetologen Prof. Dr. Haak, Diabetes Zentrum Bad Mergenheim, ein.
Der Gutachter führt aus, dass unter Berücksichtigung der Anamnese des Klägers und des Gesamtbildes davon auszugehen sei, dass keine Unverträglichkeit des Humaninsulins vorliege. Jedoch zeige sich eine ausgeprägte Hypowahrnehmungsstörung bei einer zu-sätzlich extrem hohen Insulinsensivität. Die derzeitige Therapie mit Hypurin Porcine 30/70 Mix von insgesamt 8 IE pro Tag, die hier nach gemessenem Blutzuckerwert um je 2 IE reduziert würden, zeige die deutliche Insulinsensivität.
Aus dem Gutachten geht hervor, dass im Zeitraum der Humaninsulintherapie 26 Notarzteinsätze dokumentiert seien. Es sei davon auszugehen, dass der Kläger unter Schweineinsulin im Vergleich hierzu deutlich weniger hypoglykäme Entgleisungen erleiden werde. Diese seien dringend zu vermeinden, wie die ACCORD- and ADVANCE-Studie gezeigt habe. Sie könnten zu Herzrhythmusstörungen mit möglicher Todesfolge führen.
Die Schweineinsulintherapie sei folglich vorzuziehen.
Wegen der Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage hat Erfolg. Der Kläger hat Anspruch auf die Kostenübernahme für das Präparat „Hypurin Porcine Insulin”. Die Zulässigkeit des Feststellungsantrags ergibt sich aus § 55 Abs. 1 Ziffer 1 SGG, da die Leistungspflicht der Beklagten ein zwischen den Beteiligten bestehendes Rechtsverhältnis betrifft. Das Feststellungsinteresse folgt daraus, dass der Kläger dauerhaft auf die Insulingabe angewiesen ist.
1.
Rechtsgrundlage für die Erstattung der für das Präparat „Hypurin Porcine Insulin” vom Kläger aufgewandten Kosten in Höhe von 56,53€ ist § 13 Abs. 3 Satz 1 2. Alt. SGB V, denn die Beklagte hatte mit Bescheid vom 21.07.2011 die Kostenübernahme zu Unrecht abgelehnt.
Der nach § 13 Abs 3 SGB V in Betracht kommende Kostenerstattungsanspruch reicht nicht weiter als ein entsprechender Sachleistungsanspruch des Versicherten gegen seine Krankenkasse. Er setzt daher im Regelfall voraus, dass die selbstbeschaffte Behandlung zu den Leistungen gehört, welche die Krankenkassen allgemein in Natur als Sach- oder Dienstleistung zu erbringen haben ( stRspr, vgl zB BSGE 79, 125, 126 f = SozR 3–2500 § 13 Nr 11 S 51 f mwN; BSGE 93, 236 = SozR 4–2500 § 27 Nr 1, jeweils RdNr 10 — Visudyne ®; BSG SozR 4–2500 § 27a Nr 1 RdNr 3 — ICSI). Dies ist bei dem Arzneimittel „Hypurin Porcine Insulin” im Grundsatz nicht der Fall. Denn Fertigarzneimittel sind mangels Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit (§ 2 Abs 1 Satz 1, § 12 Abs 1 SGB V) nicht von der Leistungspflicht der GKV nach § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 1 und 3, § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V umfasst, wenn ihnen die erforderliche (§ 21 Abs 1 AMG) arzneimittelrechtliche Zulassung fehlt ( vgl BSG, Urteil vom 4. April 2006 — B 1 KR 12/04 R — D‑Ribose, RdNr 22 mwN).
Für das zulassungspflichtige „Hypurin Porcine Insulin” lag weder in Deutschland noch EU-weit eine solche Arzneimittelzulassung vor. Die in einzelnen EU-Staaten und der Schweiz beschränkt auf diese Staaten erteilte Arzneimittelzulassung von „Hypurin Porcine Insulin” entfaltete nicht zugleich auch entsprechende Rechtswirkungen für Deutschland; denn we-der das deutsche Recht noch das Europarecht sehen eine solche Erweiterung der Rechtswirkungen der nur von nationalen Behörden erteilten Zulassungen ohne ein ent-sprechend vom Hersteller eingeleitetes sowie positiv beschiedenes Antragsverfahren vor vgl im Einzelnen BSGE 93, 1 = SozR 4–2500 § 31 Nr 1, jeweils Leitsatz und RdNr 11 ff — Immucothel ®).
Die einschlägigen Regelungen des Leistungsrechts der GKV zur Arzneimittelversorgung bedürfen jedoch in Fällen der vorliegenden Art auf Grund des Beschlusses des BVerfG vom 6. Dezember 2005 ( 1 BvR 347/98 — SozR 4–2500 § 27 Nr 5 = NZS 2006, 84 = NJW 2006, 891 = MedR 2006, 164 — immunbiologische Therapie ) auch im Arzneimittelbereich einer weiter gehenden verfassungskonformen Auslegung.
Diese Auslegung hat zur Folge, dass die Anspruchsvoraussetzungen von § 27 Abs 1 Satz 2 Nr 3 und § 31 Abs 1 Satz 1 SGB V in Fällen wie dem des Klägers nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (vgl. Urteil vom 04.04.2006, B 1 KR 7/05 R) ausnahms-weise bejaht werden müssen. Der Kläger leidet an einer lebensbedrohlichen Erkrankung, bei der die Anwendung der üblichen Standard-Behandlung mit genetisch hergestellten Humaninsulin aus medizinischen Gründen ausschied und andere Behandlungsmöglich-keiten nicht zur Verfügung stehen. Der Vertragsarzt durfte daher in diesem medizinisch begründeten Einzelfall „Hypurin Porcine Insulin” ausnahmsweise auf Kosten der Beklagten verordnen, obwohl das Mittel bloß gemäß § 73 Abs 3 AMG im Wege des Einzelim-ports über eine Apotheke aus der Schweiz beschafft wurde und deshalb an sich von der Versorgung ausgeschlossen war (vgl oben 1.b). Die Behandlung war beim Kläger “notwendig” iS von § 27 Abs 1 Satz 1 SGB V, um die Verschlimmerung ihrer Krankheit zu verhüten.
Die vom BVerfG zum Anspruch von Versicherten auf ärztliche Behandlung mit nicht all-gemein anerkannten Methoden im Beschluss vom 6. Dezember 2005 (Az. 1 BvR 347/98) entwickelten Grundsätze gelten sinngemäß auch im Bereich der Versorgung mit Arzneimitteln.
Das BVerfG hat in dem genannten Beschluss zu einer ärztlichen Behandlungsmethode das Urteil des Senats vom 16. September 1997 ( BSGE 81, 54 = SozR 3–2500 § 135 Nr 4 ) aufgehoben und entschieden, dass es mit den Grundrechten aus Art 2 Abs 1 in Verbindung mit dem Sozialstaatsprinzip und aus Art 2 Abs 2 Satz 1 Grundgesetz nicht vereinbar ist, einen gesetzlich Krankenversicherten, für dessen lebensbedrohliche oder regelmäßig tödliche Erkrankung eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung steht, generell von der Gewährung einer von ihm ge-wählten, ärztlich angewandten Behandlungsmethode auszuschließen, wenn eine nicht ganz entfernt liegende Aussicht auf Heilung oder auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf besteht. Der Beschluss beanstandet insoweit eine verfassungswidrige Auslegung im Grundsatz verfassungsgemäßer Vorschriften des SGB V durch das BSG.
Eine Leistungsverweigerung der Krankenkasse unter Berufung darauf, eine bestimmte neue ärztliche Behandlungsmethode sei im Rahmen der GKV ausgeschlossen, weil der zuständige Gemeinsame Bundesausschuss (G‑BA, vgl § 91 SGB V) diese noch nicht an-erkannt oder sie sich zumindest in der Praxis und in der medizinischen Fachdiskussion noch nicht durchgesetzt hat ( zusammenfassend BSGE 94, 221 RdNr 23 = SozR 4–2400 § 89 Nr 3 RdNr 24 mwN ), verstößt nach dieser Rechtsprechung des BVerfG gegen das Grundgesetz, wenn folgende drei Voraussetzungen kumulativ erfüllt sind:
- Es liegt eine lebensbedrohliche oder regelmäßig tödlich verlaufende Erkrankung vor.
- Bezüglich dieser Krankheit steht eine allgemein anerkannte, medizinischem Standard entsprechende Behandlung nicht zur Verfügung
- Bezüglich der beim Versicherten ärztlich angewandten (neuen, nicht allgemein anerkannten) Behandlungsmethode besteht eine “auf Indizien gestützte” nicht ganz fern liegende Aussicht auf Heilung oder wenigstens auf eine spürbare positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf ( BVerfG, aaO, RdNr 64 = SozR, aaO, RdNr 3).
Der Kläger leidet unter einem Diabetes mellitus Typ 1, bei dem selbst bei dauerhafter Be-handlung bereits schwere Spätschäden (diabetische Retinopathie rechts, diabetische Gangrän mit Zustand nach Vorfußamputation beidseits, etc.) eingetreten sind. Es steht außer Frage, dass die Erkrankung ohne Behandlung binnen kürzester Zeit lebensbedrohliche Folgen hätte. Daneben liegt beim Kläger jedoch gemäß dem Gutachten des Prof. Dr. Haak zwar keine Insulinunverträglichkeit, sondern vielmehr eine Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung vor. Diese führt dazu, dass der Kläger nicht in der Lage ist, die ersten Anzeichen einer Unterzuckerung wahrzunehmen und entsprechend gegenzusteuern.
Hypoglykämie bezeichnet in der Medizin einen zu niedrigen Blutzuckerspiegel bzw. zu niedrigen Glucoseanteil im Blut (umgangssprachlich auch Unterzucker). Die Symptomatik geht von Unruhe oder Heißhungerattacken über leicht verminderte Hirnleistung und Aggressivität bis hin zu Krampfanfällen oder Schock (umgangssprachlich „Zuckerschock”), je nach Ausmaß der Unterzuckerung. Bei einer Unterzuckerung sinkt der Zuckergehalt im Körper so weit ab, dass die Funktionsfähigkeit der Zellen beeinträchtigt wird. Hypoglykämien können abhängig von ihrem Ausmaß und bei wiederholtem Auftreten zu Schäden am Gehirn bis hin zum Tode führen. Häufiger tritt der Tod jedoch nicht durch die Hypoglykämie selbst auf, sondern durch die Folgen des Kontrollverlustes, denn bei zunehmender Bewusstseinseintrübung kann es — ähnlich der Alkoholintoxikation — zu schweren Stürzen oder Verkehrsunfällen kommen; durch Aspiration aufgrund fehlender Schutzreflexe k.ann der Betroffene zudem ersticken (Quelle: Wikipedia).
Unter der Behandlung mit Humaninsulin sind 26 Notarzteinsätze dokumentiert. Patienten mit Hypoglykämie-Wahrnehmungsstörung haben im Vergleich zu Patienten mit erhaltener Wahrnehmung ein 25-fach erhöhtes Risiko für eine schwere Hypoglykämie (MWW-Fortschr. Med. Nr. 12/2006, S. 50). In der mündlichen Verhandlung haben der Kläger und seine Ehefrau glaubhaft und eindrücklich geschildert, dass es nur der Wahrnehmungen und des Einsatzes seiner Ehefrau zu verdanken ist, dass der Kläger noch am Leben ist. In Anbetracht der Gehäuftheit des Auftretens potentiell lebensbedrohlicher Situation sieht die Kammer hier — in Übereinstimmung mit Prof. Haak — das Kriterium einer lebensbedrohlichen Erkrankung als erfüllt an.
Dies führt dazu, dass für die Diabetes-Erkrankung des Klägers somit keine dem medizi-nischen Standard entsprechende Therapie zur Verfügung steht. Zugelassen sind in Deutschland ausschließlich gentechnisch hergestellte Humaninsulinpräparate. Die vormals vorhandenen tierischen Insulinpräparate sind sämtlich vom Markt genommen worden, die entsprechenden Zulassungen wurden sämtlich zurückgegeben. Die Behandlung mit gentechnisch hergestellten Humaninsulin ist nach den Feststellungen des gerichtlich bestellten Gutachters jedoch kontraindiziert. Es ist zu erwarten, dass bei der Weiterbe-handlung mit Humaninsulin wieder Hypoglykämien in gehäufter Form auftreten werden. Unter Einsatz des streitgegenständlichen Präparats ist dies nicht der Fall. Der Gutachter kommt daher zu der Einschätzung, dass eine Behandlung mit Humaninsulin ausscheidet.
Durch die Behandlung mit „Hypurin Procine Insulin” ist auch eine spürbar positive Einwirkung auf den Krankheitsverlauf zu erwarten. Die tatsächlichen Feststellungen, dass unter Einsatz von Scheineinsulin keine Hypoglykämien mehr aufgetreten seien, unter der Gabe von Humaninsulin jedoch 26, sind nach der Ansicht des Gerichts ausreichend, um den positiven Effekt des Schweineinsulin nachzuweisen. Dass die positive Entwicklung alleine in der Wahl eines anderen Blutzuckerzielwertes begründet ist, wie vom Gutachter des Medizinischen Dienstes des Bundeseisenbahnvermögens angenommen wird, erschließt sich dem Gericht in Anbetracht der problematischen Diabeteseinstellung des Klägers nicht. Aus dem Gutachten des Dr. Haak ergibt sich, dass auch unter Gabe von Humaninsulin ein Zielwert von 200 mg/dl angestrebt worden sei, die positive Veränderung kann’ folglich nicht in einem höheren Zielwert begründet sein.
Um die Notwendigkeit der Krankenbehandlung iS von §§ 27, 31 SGB V mit einem nicht zugelassenen, aus dem Ausland importierten Arzneimittel trotz der Anforderungen des § 2 Abs 1 und § 12 Abs 1 SGB V über die bisherige BSG-Rechtsprechung hinaus bejahen zu können, müssen daher neben der nach dem BVerfG erforderlichen Krankheitssituation und den allgemeinen krankenversicherungsrechtlichen Erfordernissen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:.
- Es darf kein Verstoß gegen das Arzneimittelrecht vorliegen.
- Unter Berücksichtigung des gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaßstabes überwiegt bei der vor der Behandlung erforderlichen sowohl abstrakten als auch speziell auf den Versicherten bezogenen konkreten Analyse und Abwägung von Chancen und Risiken der voraussichtliche Nutzen.
- Die — in erster Linie fachärztliche — Behandlung muss auch im Übrigen den Regeln der ärztlichen Kunst entsprechend durchgeführt und ausreichend dokumentiert werden.
Diese Voraussetzungen sind hier unstreitig gegeben.
Der Import von „Hypurin Porcine Insulin” aus der Schweiz und dessen Bezug verstieß nicht gegen das Arzneimittelrecht. Aus dem klägerseits vorgelegten Schreiben des Baye-rischen Staatsministeriums für Umwelt und Gesundheit ergibt sich vielmehr, dass der Im-port tierischer Insulinpräparate im Grunde sogar als Bestandteil des Gesundheitssystems angesehen wird.
Die vor der Behandlung mit einem Arzneimittel der vorbeschriebenen Art regelmäßig er-forderliche abstrakte und konkret auf den Versicherten bezogene Nutzen-Risiko-Analyse musste im Falle des Klägers unter Beachtung des gebotenen Wahrscheinlichkeitsmaß-stabes positiv ausfallen. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der zu verlangen ist, um davon ausgehen zu dürfen, dass die behaupteten Behandlungserfolge mit hinreichender Sicherheit dem Einsatz gerade der streitigen Behandlung zugerechnet werden können und das einzugehende Risiko vertretbar ist, unterliegt Abstufungen je nach der Schwere und dem Stadium der Erkrankung.
Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab, der zu verlangen ist, um da-von ausgehen zu dürfen, dass die behaupteten Behandlungserfolge mit hinreichender Sicherheit dem Einsatz gerade der streitigen Behandlung zugerechnet werden können und das einzugehende Risiko vertretbar ist, unterliegt Abstufungen je nach der Schwere und dem Stadium der Erkrankung. Mit der Umstellung des Klägers auf tierisches Insulin folgte der behandelnde Diabetologe der Empfehlung der WHO zur Umstellung auf tierisches Insulin bei fehlender Hypoglykämiewahrnehmung (WHO Essention Medicins Library — EM-Lib: WHO Model Formulary English Edition 2004 Hormones and other endocrine drugs and contraceptives Insulins and other antidiabetic drugs). Auch hier wird die Empfehlung gegeben, in dem Fall, dass ein Patient glaubt, Humaninsulin sei für das Wahrnehmungsdefizit verantwortlich, diesen wieder auf tierisches Insulin umzustellen. Dieser Empfehlung ist man gefolgt, so dass das ein potentiell höheres Unverträglichkeitsrisiko bei tierischem Insulin durch den erhöhten Nutzen (Wegfall von Hypoglykämien) relativiert wird. Durchführung und Dokumentation der fachärztlichen Behandlung ist gewährleistet.
Im Ergebnis bestand daher ein Anspruch auf die Versorgung mit „Hypurine Porcine Insulin”.
2.
Dem Feststellungsantrag des Klägers war stattzugeben, um die dauerhafte Versorgung mit Schweineinsulin sicherzustellen. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 193 SGG
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