Das Bun­des­so­zi­al­ge­richt hat in meh­re­ren Ent­schei­dun­gen (u.a.  B 9 SB 2/12 R, Urteil vom 25.10.2012) kon­kre­ti­siert, unter wel­chen Vor­aus­set­zun­gen bei Men­schen mit Dia­be­tes ein Schwer­be­hin­der­ten­aus­weis aus­ge­stellt werden darf. Allein der hohe Auf­wand einer Insu­lin­the­ra­pie reicht dafür nicht aus.

Nach den seit 2010 gel­ten­den Vor­schrif­ten liegt eine Schwer­be­hin­de­rung vor bei Men­schen mit Dia­be­tes, die eine “Insu­lin­the­ra­pie mit täg­lich min­des­tens vier Insu­lin­in­jek­tio­nen durch­füh­ren, wobei die Insulin­do­sis in Abhän­gig­keit vom aktu­el­len Blut­zu­cker, der fol­gen­den Mahl­zeit und der kör­per­li­chen Belas­tung selb­stän­dig vari­iert werden muss, und durch erheb­li­che Ein­schnit­te gra­vie­rend in der Lebens­füh­rung beein­träch­tigt sind, erlei­den auf Grund dieses The­ra­pie­auf­wands eine aus­ge­präg­te Teil­ha­be­be­ein­träch­ti­gung”.

Immer wieder hört man die Aus­sa­ge, daß somit der mit einer Insu­lin­the­ra­pie ein­her­ge­hen­de The­ra­pie­auf­wand aus­rei­chend sei, um eine Schwer­be­hin­der­ten­ei­gen­schaft zu begrün­den; die tat­säch­li­che Stoff­wech­sel­ein­stel­lung spiele keine Rolle. Und es dürfe ja schließ­lich nicht sein, daß die Betrof­fe­nen quasi dafür belohnt würden, wenn sie mit ihrem Dia­be­tes nach­läs­sig umge­hen und die ärzt­li­chen Anwei­sun­gen nicht befol­gen.

Umge­kehrt haben auch Ver­sor­gungs­äm­ter die Vor­schrift oft dahin­ge­hend eng inter­pre­tiert, daß tat­säch­lich jeden Tag min­des­tens vier unter­schied­li­che Injek­tio­nen erfor­der­lich seien und dabei immer die Dosis ange­passt werden müsse. Lagen diese Vor­aus­set­zun­gen nicht vor bzw. ent­deck­ten die Ämter in den Auf­zeich­nun­gen ent­spre­chen­de Lücken, dann wurden Anträ­ge nicht selten abge­lehnt.

Das Bun­des­so­zi­al­ge­richt hat aller­dings bereits vor eini­gen Jahren klar­ge­stellt, daß es nicht allein auf den The­ra­pie­auf­wand ankom­men kann, viel­mehr muss “die betref­fen­de Person durch Aus­wir­kun­gen des Dia­be­tes mel­li­tus auch ins­ge­samt gese­hen erheb­lich in der Lebens­füh­rung beein­träch­tigt sein”. Dies komme  durch “die Ver­wen­dung des Wortes ‘und’ deut­lich zum Aus­druck”. Es sei auch “nicht ersicht­lich, dass der Ver­ord­nungs­ge­ber davon aus­ge­gan­gen ist, dass bei einem ent­spre­chen­den The­ra­pie­auf­wand immer eine gra­vie­ren­de Beein­träch­ti­gung der Lebens­füh­rung vor­liegt.

Solche “erheb­li­chen Ein­schnit­te” könn­ten auf Beson­der­hei­ten der The­ra­pie beru­hen, etwa “wenn ein Erkrank­ter auf­grund per­sön­li­cher Defi­zi­te für eine Injek­ti­on erheb­lich mehr Zeit benö­tigt als ein ande­rer, im Umgang mit den Injek­ti­ons­uten­si­li­en ver­sier­ter Mensch.” Auch ein unzu­läng­li­cher The­ra­pie­er­folg, also eine schlecht ein­ge­stell­te Stoff­wech­sel­la­ge, können sich als solche Ein­schnit­ten der Lebens­füh­rung aus­wir­ken.

Allein das Messen und Sprit­zen reicht also nicht — viel­mehr muss man  ins­ge­samt gese­hen auch krank­heits­be­dingt erheb­lich in der Lebens­füh­rung beein­träch­tigt sein. Für Juris­ten, welche die Recht­spre­chung des Gerichts kennen, ist das aller­dings nicht über­ra­schend; ich hatte das so bereits unmit­tel­bar nach Inkraft­tre­ten der ein­schlä­gi­gen Vor­schrif­ten pro­gnos­ti­ziert (Dia­be­tes-Jour­nal Heft 8/2010, S. 44–47).

Aller­dings ist eini­ger­ma­ßen unklar, wie zwi­schen einem “Ein­schnitt“, einem “wesent­li­chen Ein­schnitt” und einem “erheb­li­chen Ein­schnitt“, der sich “gra­vie­rend auf die Lebens­füh­rung aus­wirkt” zu unter­schei­den ist – diese schwam­mi­gen Rechts­be­grif­fe liegen der Fest­stel­lung des Behin­de­rungs­grads aber zugrun­de. Das im Urteil genann­te Bei­spiel, daß jemand “für eine Injek­ti­on erheb­lich mehr Zeit benö­tigt als ein ande­rer”, scheint aller­dings eher theo­re­tisch und dürfte in der Praxis kaum rele­vant sein. Ich emp­feh­le daher, beim Antrag mög­lichst umfas­send und aus­führ­lich zu schil­dern, wie bzw. inwie­weit man durch den Dia­be­tes in seiner Lebens­füh­rung beein­träch­tigt wird.

Ansons­ten sagt das Gericht aber immer­hin ganz aus­drück­lich, daß  “die Zahl von vier Insu­lin­in­jek­tio­nen am Tag nicht als abso­lu­ter Grenz­wert” anzu­se­hen ist. Es sei also nicht — wie manche Ämter es ver­lan­gen — erfor­der­lich, daß “ausnahms­los an allen Tagen eine Anzahl von vier Insu­lin­in­jek­tio­nen durch­ge­führt werden muss”.

Schließ­lich bedeu­te auch “selbst­stän­di­ge” Varia­ti­on der Insulin­do­sis nicht, daß man dafür die Dosis “stän­dig” anpas­sen müsse. Ent­schei­dend sei die Abhän­gig­keit der jewei­li­gen Dosie­rung vom aktu­el­len Blut­zu­cker, der fol­gen­den Mahl­zeit und der kör­per­li­chen Belas­tung; diese könne dem­nach unter Umstän­den auch mehr­fach gleich blei­ben. Das Gericht stellt dazu klar: “in keinem Fall ist inso­weit allein auf die Anzahl von zusätz­li­chen Kor­rek­tur­injek­tio­nen abzu­stel­len.”

Und schließ­lich gibt das Gericht noch eine wei­te­re “Ohr­fei­ge”: “Schließ­lich geht die von der Klä­ge­rin in diesem Zusam­men­hang ver­tre­te­ne Ansicht fehl, sie dürfe wegen ihres kon­se­quen­ten The­ra­pie­ver­hal­tens und ihrer ver­nünf­ti­gen Lebens­füh­rung in Bezug auf ihre Erkran­kung bei der Fest­set­zung des GdB nicht “schlech­ter” behan­delt werden als ein behin­der­ter Mensch, der bei glei­cher Krank­heits­la­ge wegen einer nicht so kon­se­quent durch­ge­führ­ten The­ra­pie eine schlech­te­re Stoff­wech­sel­la­ge auf­wei­se und dem des­we­gen ein höhe­rer GdB als ihr zuer­kannt werde.

Weiter heisst es:  “Die Klä­ge­rin über­sieht, dass die Beur­tei­lung des GdB im Schwer­be­hin­der­ten­recht aus­schließ­lich final, also ori­en­tiert an dem tat­säch­lich bestehen­den Zustand des behin­der­ten Men­schen zu erfol­gen hat, ohne dass es auf die Ver­ur­sa­chung der dau­er­haf­ten Gesund­heits­stö­rung ankommt .”

Das mutet auf den ersten Blick etwas selt­sam an, denn schein­bar wird damit der­je­ni­ge quasi “belohnt,” der seinen Dia­be­tes absicht­lich nicht im Griff hat. Aber von der Sys­te­ma­tik des Geset­zes ist es klar: es kommt auf den tat­säch­li­chen Ist-Zustand an. Aus wel­chem Grund es zur Beein­träch­ti­gung kam, spielt grund­sätz­lich keine Rolle — auch für Dia­be­ti­ker gilt inso­weit nichts ande­res als für jeman­den, der bei­spiels­wei­se auf­grund eines selbst­ver­schul­de­ten Unfal­les quer­schnitts­ge­lähmt ist.

Im Ergeb­nis ändert das Urteil nichts daran: auch wei­ter­hin ist die Fest­stel­lung einer Schwer­be­hin­de­rung auf­grund des Dia­be­tes in vielen Fällen mög­lich. Aller­dings müssen die mit der Krank­heit ein­her­ge­hen­den, erheb­li­chen Beein­träch­ti­gung nach­ge­wie­sen werden. Tipps dazu finden sich in meinen Leit­fa­den, den es kos­ten­los bei Dia­be­tes­DE-Deut­sche Dia­be­tes Hilfe gibt.

 

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